Wahrheitsinkongruenz

Unter Wahrheitsinkongruenz verstehen wir ein intellektuell-affirmatives Verhalten von nicht manisch-depressiven oder psychotischen Personen, die eine gestörte Beziehung zur objektiven Wahrheit aufweisen. Weder intellektuelle Auseinandersetzung mit Fakten noch eine deduktive Analyse der logischen Schlüsse vermag die betroffenen Personen von ihrem Denkfehler zu überzeugen. Die Wahrheit ist bei diesem Störungsbild keine Einheit von vielen wahren Aussagen in Summe, sondern eine lose Sammlung an „Wahrheiten“, die zueinander in Widerspruch stehen können und eher wahllos zusammen gestellt werden – je nachdem, was gerade als opportun erscheint.

Ein typisches Beispiel ist die Stellungnahme bei hohen ethischen Gütern wie dem Recht auf Leben. Einerseits wird auf die Notwendigkeit der Rettung vor dem Ertrinken im Mittelmeer hingewiesen (was unbestritten der Fall ist) und andererseits von denselben Personen das Recht auf Geburt (also das Recht auf das Leben außerhalb der Mutter) verweigert. Das eine Menschenleben scheint hier also anders wert zu sein als das andere. Aber es gibt nur eine Menschenwürde!

Auch der Slogan „Mein Bauch, meine Entscheidung“ lässt die Folgerichtigkeit vermissen: Mein Körper ist dadurch zu identifizieren, dass es ein gemeinsames DNA in sich trägt. Ist die DNA anders, muss es sich um einen fremden Körper handeln, über den ich eben nicht frei verfügen kann – auch das verbietet mir die Menschenwürde. (Mag sein, dass es manchmal Konflikt zwischen den zwei Personen von gleicher Menschenwürde gibt, die ein unermessliches Leid für eine der Seiten bedeuten würde. Ob dies so ist und dem einen oder dem anderen Vorzug zu geben ist, kann freilich ein Dritter – wie z.B. ein Richter – nachvollziehen und entsprechend den Sachverhalt objektivtieren.)

Solche Beispiele könnte man ohne Ende mehren. Sie basieren auf einem von Wunsch geprägten Denken, welches das Ergebnis bereits festlegt, bevor der Prozess des logischen Schließens begonnen hat. Um das Ergebnis zu begründen, wird auf passend erscheinende Argumente zurück gegriffen. Man geht also nicht logisch-argumentativ vor, sondern weicht einer Frage aus, indem man eine andere Frage stellt. (Der sog. „Whatsaboutismus“)

In einer Welt der kurzlebigen Vergnügen gehört die Inkonsequenz zum Lifestyle: heute macht man sich Sorgen um die Gletscher und die Erderwärmung, morgen bricht man zum dritten Mal in die Berge auf, um Ski zu fahren – auf dem Gletscher versteht sich, denn woanders gibt es nicht genug Schnee.

Nicht viel anders sieht es in den Medien aus. Man nimmt Abkürzungen, weil man dem Zuschauer die logische Auseinandersetzung ersparen will. Das Infotainment wurde von Neil Postman schon vor vierzig Jahren als mediale Fehlentwicklung diagnostiziert. Die Auseinandersetzung mit dem Warum ist die Hauptbeschäftigung eines Wissenschaftlers, doch in den Medien hören wir „aus der Wissenschaft“ nur Zahlen aus Statistiken oder gar nur die vermeintlichen Erkenntnisse ohne den Weg dorthin nachvollziehen zu können.

Schlimmer finde ich einen anderen Grund der Inkongruenz: die Ignoranz gepaart von politisch-medialer Macht. Diesen Zustand kennen meine Altersgenossen aus der Ostseite des Eisernen Vorhangs. In den Schulen, in den Ämtern, bei öffentlichen Veranstaltungen oder in den Medien wird die politisch korrekte Wahrheit gesprochen. In den Familien, unter Freunden und an den Stammtischen die Realität. Die Kinder wachsen in einem Zustand der permanenten Lüge auf, weil Probleme nicht beim Namen genannt werden dürfen. Die Angst ist zu groß, von Lehrern mit schlechter Note bestraft zu werden oder als Erwachsener im Staatsdienst keinen Job zu bekommen oder diesen gar zu verlieren. (Da fällt mir gerade ein, dass auch im Westen dieser Missstand bekannt sein dürfte: III. Reich und 1984 sind die eindrücklichsten Beispiele.) Die stets aufmüpfigen aber auch sehr humorvollen Polen haben es in hunderten von Sketchen und Liedern verarbeitet. Der „Staatsfunk“ hieß damals einfach nur „Fernsehen“ und „Lügenpresse“ „Trybuna Ludu“. Man glaubte immer das Gegenteil von dem, was das Fernsehen oder die kommunistischen Partei-Tageszeitung Trybuna Ludu verkündeten.

Nebenbei bemerkt: Diese Ignoranz ist in einer Demokratie äußerst gefährlich. Medien leben von der Glaubwürdigkeit. Stellt sich der Journalismus in den unkritischen Dienst der Regierung, wird er sich selbst untreu und verspielt das Vertrauen seiner Konsumenten. Dann beginnt die Hochsaison für Rattenfänger und Extremisten. Nichts ist so ein gutes Ziel wie ein abgehobener Staat, der scheinbar die Realität nicht mehr kennt. Wenn man von der Regierung und den Medien belogen wird, wem glaubt man stattdessen? Das Internet war bisher ein zwar für Fakenews anfälliges Medium aber immerhin eine freie und unzensierte Wissenssammlung. Staatliche und private Zensur schränken diese Informationsquelle ein und es ist heute nahezu unmöglich in Google oder Bing den Namen des ehemaligen Homosexuellen aus den USA, der seinen vorherigen Zustand als eine Art Psychose bezeichnete, in Erfahrung zu bringen. Zugang zu Fakten im Namen einer Ideologie auf den Index gesetzt?

Auch eine Gesellschaft kann unter Wahrheitsinkongruenz leiden. Wobei wir hier eher von Wahrheitsdysphorie sprechen sollten: man fühlt sich mit Fakten unwohl und blendet diese lieber aus, damit alles zu der gewünschten Realität passt. Dr. Johannes Hartl prägte auf der MEHR 2024 den Satz: „Realität ist die Wand, gegen die du läufst, wenn du einer Illusion gefolgt bist“ Also muss die Mauer weg!

„Wahrheit ist die Kongruenz zwischen Aussage und Realität.“ So definiert Thomas von Aquin die Wahrheit. Diese Definition ist ebenso einfach wie brilliant. Sogar die Kleinsten beherrschen ihre Anwendung: „Der Kaiser ist nackt!“

Es bleibt uns also nur zu wünschen, dass wir die Zeit und die Kraft finden, unsere Prinzipien logisch und konsequent in Handlungen und moralische Normen umzusetzen, damit wir kongruent bleiben und uns vor unseren Kindern nicht fürchten müssen.