Das Samuel-Charisma


Wir sind als Katholiken – und ich glaube, anderen Konfessionen geht es nicht anders – nicht gerade dafür bekannt, die Bibel gut zu kennen und sie als lebendig, wirksam und persönlich gemeint zu betrachten. Das Alte Testament wird als „veraltet“ oder „nicht mehr benötigt“ wahrgenommen. Die sog. historischen Bücher mit Gestalten aus längst vergangenen Zeit berichten oftmals von Priestern, Propheten, Opfern, Kriegen, Vertreibung und Sklaverei. Die sog. Weißheitsbücher werden bestenfalls nur teilweise als sinnstiftend akzeptiert. Und die vielen Propheten scheinen nur relevant, wenn es um Jesus geht. Diese Einstellung widerspricht dem Verständnis der Bibel als dem ewig gültigen Wort Gottes, das in jedem Gläubigen seinen ganz persönlichen Zugang zum Verständnis des Willens des Vaters bereit stellt. Ein Beispiel dafür kann die Geschichte des Samuel sein, denn neben den geschichtlichen Fakten erzählt sie viel über den Umgang mit der eigenen Berufung bzw. der persönlichen Lebensaufgabe, für deren Erfüllung Charismen nötig sind. Sehen wir uns die Geschichte in 1. Sam 1-3 einmal genauer an!

Im ersten Buch Samuel lesen wir wie Hannah – die Mutter Samuels – in der Ehe mit Elkana unter seiner zweiten Frau Peninna leidet. Unfruchtbarkeit war damals ein Zeichen des fehlenden Wohlwollens in den Augen Gottes – einer Strafe ähnlich. Doch nicht nur dem war Hannah ausgesetzt. Sie musste auch Feindseligkeit von Peninna ertragen. (Sie war manchmal so verzweifelt, dass sie nicht einmal essen und trinken konnte.) Bei der jährlichen Wallfahrt nach Schilo schlich sie sich abends aus dem Zeltlager der Familie, um vor der Bundeslade zu beten. Im „Tempel“, der damals noch ein Zelt war („Offenbarungszelt“), diente der Priester Eli. Seine Söhne waren korrupt und nur auf eigenen Vorteil bedacht. Er selbst war älter und hielt die Gott still zuflüsternde Hannah für betrunken. Er wollte keine Unruhe am Gebetsort und schickte die weinenden Frau weg – aber erst nachdem er sie segnete, worauf Hannah bestand als sie ihm ihr Leid klagte. Sie versprach Gott als Zeichen der Dankbarkeit, ihren Sohn ihm zurück zu geben. Etwa neun Monate später kommt der kleine Samuel zur Welt und das Loblied Hannahs wird (teilweise paraphrasiert) zum Grundmuster des Magnifikat Mariens im Lukasevangelium. Der Kleine wächst in Schilo bei Eli auf und wird von Gott zum besonderen Werkzeug der Heilsgeschichte berufen. Ihm wird die Ehre zuteil, Israel gleich zwei Könige zu schenken. Seine „Sensoren“ für Gottes Willen sind so gut, dass er mit absoluter Sicherheit sagen konnte, dass nicht die sieben Söhne Isais erwählt waren, sondern der abwesende „Kleine“ – David.

So weit – so gut. Eine nette Geschichte. Doch was steht dahinter? Da ist zuerst die Frau, die unter vielerlei Problemen zu leiden hat. Sie weiß sich nicht anders zu helfen als zum Herrn zu gehen. Und wie so soft in der Bibel (Frau am Jakobsbrunnen, die Wittwe von Sarepta, Ruth, die Kanaanitische Frau oder die Wittwe im Trauerzug hinter dem Leichnam ihres Sohnes, der von Jesus auferweckt wird oder in anderen Bibelstellen) bekommt Gott angesichts notleidender Frauen ein besonders weiches Herz und rettet sie. Die Sehnsucht nach einer Rettung durch den Allmächtigen ist ein erstes Merkmal des Samuel-Charisma. Wer nur in Gott seine Hoffnung legt, bekommt es geschenkt: kein Verhandeln, kein Anspruch und keine Sicherheit des Gewinns hilft dabei – nur die Hoffnung. Diese drückt sich in absoluter Sehnsucht aus. Eine solche Sehnsucht wird von Gott manchmal erwartet – ein Beweis für die Bereitschaft, wenn man so will. Warum Gott es erst dann schenkt und manchmal ganz freigiebig verteilt, auch wenn er nicht gebeten wurde, bleibt sein Geheimnis. (Wenn wir es wüssten, warum es so ist, wäre er kein Gott, sondern ein Werkzeuge, das wir selbst programmieren könnten.)

Interessant ist auch, dass Hannah eine Zusage bekommt, ohne das Eli weiß, worum sie Gott bittet oder was sie braucht. Diese Zusage durch einen „Amtsträger“ verwandelt sie und sie bekommt neue Kraft, auch wenn sich ihre Lage keineswegs verändert hätte. Die Zusage eines Gottesdieners hat eine besondere Kraft. Sie hat sich keine schöne Welt erträumt oder bildet sich etwas ein. Da ist eine ausgesprochene Zusage. Nicht ohne Grund sprechen wir im Deutschen davon, dass jemand seinen Segen für etwas gegeben hat. Die Katholische Charismatische Erneuerung setzt weltweit auf diesen „Segen“ (Benediction = „guten Zuspruch“), wenn sie um die Ausgießung des Heiligen Geistes bittet. Natürlich kann jeder für sich darum beten aber wir sind alle Geschwister und wir treten füreinander ein. Manchmal offenbart Gott dem älteren Bruder oder der älteren Schwester sogar, was er vorhat zu schenken. Das macht es einfacher, ein Charisma anzunehmen, denn man weiß: ich habe es mir nicht ersponnen, andere bestätigen es mir. Das ist Merkmal zwei des Samuel-Charisma.

Dritte Eigenschaft kam ebenso zur Sprache: Die Zusage Gottes, immer mit der Kraft seines Geistes dabei zu sein und das Charisma als sein Werkzeugt zu bestätigen, schenkt Freude demjenigen, der damit dient. „Gnade baut auf Natur auf“ – sagt Thomas von Aquin. Ein Charisma ist oft eine außerordentliche Erweiterung einer angeborenen Fähigkeit. Geselligen Menschen fällt es super leicht, mit ihrem Lebensstil, ihrer Sprache und ihrem Auftreten die Güte Gottes zu vermitteln. Ein Sprachgewandter nimmt mit Leichtigkeit eine Rede (Lehre) auf sich. Ein sehr sensibler Mensch ist offen für die Regungen Gottes und wirkt als Prophet wie ein Resonanzkörper. Sie tun alle das, was ihnen in gewisser Weise sowieso Freude bereitet. Stellt sich die Freude von Anfang an nicht ein, darf die Zusage geprüft werden. Manchmal braucht auch ein Charisma Zeit, um zu wachsen und den Begabten zu verändern, so dass es passt.

In Vers 20 des ersten Kapitels begründet Hannah, warum sie gerade Samuel als Namen für das Kind ausgesucht hat: „Ich habe ihn vom Herrn erbeten„. Daher muss er „Jahwe hat gehört“ heißen! Das ersehnte Geschenkt darf kein Selbstzweck werden. Hannah hält ihr Wort und schenkt Gott ihren einzigen Sohn im Alter von ca. 1,5 Jahren zurück und besucht ihn jedes Jahr. Für diese Treue beschenkt sie Gott mit weiteren Kindern, während Samuel bei Eli und seiner Frau aufwächst. Dieses Geheimnis des Schenkens und Zurückbekommens ist Merkmal vier des Samuel-Charisma: Was man von Gott erbeten hat, wird selbstverständlich in seinen Dienst gestellt. Ein Charisma ist nicht zur persönlichen Bereicherung oder gar als Zeichen des Heiligkeitsgrades (wie ein Orden auf der Brust des Soldaten) gedacht, sondern als Dienst und Werkzeug zur Heiligung anderer. Aus der richtigen Nutzung des Charismas kann Mehr erwachsen: Wer gelernt hat, mit Gott zu kooperieren – sei es mit dem kleinsten und „nutzlosesten“ Charisma –  wird von ihm weitere Zusagen bekommen. Denn bewährte und zuverlässige Mitarbeiter bilden das Kapital eines jeden Arbeitgebers.

Eigenschaft fünf des Samuel-Charisma bildet der Lernprozess im Umgang mit der Zusage Gottes. Der kleine Samuel hört Stimmen. Er steht immer auf und geht zum Eli. Erst beim dritten Mal erkennt Eli (als erfahrener Diener Gottes), „was gespielt wird“ und gibt dem Kleinen den Rat, Gott zu antworten und zu sagen: „Ich höre„. Ein Anfänger hat es immer schwer. Er muss sich selbst reflektieren und doch weiß er nicht, ob es richtig ist. Es fehlt ihm ein Lehrer – eine Referenz. Deshalb schickt Gott uns ältere Geschwister im Glauben als Unterstützung. Wir können aus ihrer Erfahrung schöpfen und auch aus ihren Fehlern lernen. Manchmal fehlt ein Lehrer und wir müssen mit viel Vorsicht austesten, wann Gott etwas in uns und durch uns bewirken will. Natürlich werden dort auch Fehler passieren. Aber was wäre die Alternative? Den Dienst verweigern? Gott kann auch auf krummen Zeilen gerade schreiben – heißt es in einem Spruch. Er kann mit unseren Fehlern umgehen!

Das sechste Merkmal des Samuel-Charisma ist die unangenehme Situation, in der wir uns entscheiden müssen, ob wir zu unseren Freunden, Angehörigen und Gönnern stehen oder ob wir uns der Wahrheit verpflichtet fühlen. Samuel ist ein guter Diener Gottes und hat eine Vision. Gott offenbart ihm, dass die Familie von Eli wegen den vielen Verstößen seiner Söhne von Gott verworfen wird, so wie es bereits ein anderer vor ihm Eli prophezeite. Eli will unbedingt wissen, was der Inhalt der Offenbarung war. Samuel erzählt es ihm, um bei der Wahrheit zu bleiben – auch wenn es ihm schwer fällt, seinen Pflegevater mit der Aussage zu belasten.

Eigenschaft sieben des Samuel-Charisma ist ein Geheimnis. Keiner hat Samuel gesagt, was seine Aufgabe sein wird. Niemand kennt die Zukunft. Ebenso weiß keiner von uns, wann die Mission „erfüllt“ ist. Manchmal ruft Gott Menschen in seinen Dienst, um eine einzige Aufgabe zu erfüllen. Ein gutes Beispiel ist dafür Simeon, der zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort das richtige Kind als den Retter Israels erkennt. Darauf wartete er ein Leben lang. Samuel bringt wieder Ordnung in das Zelt der Begegnung. Das ist aber nicht seine Hauptaufgabe. Er muss Israel einen König einsetzen: finden und salben. Dass der erste König später durch einen anderen ersetzt werden soll, sagt Gott Samuel nicht. Es ist nicht die Schuld Samuels, dass Gott ihn verworfen hat. Als Charismatiker darf man nicht an sich selbst zweifeln, wenn das Charisma scheinbar nutzlos ist oder die Früchte ihres Einsatzes schnell verfliegen. Oft heißt es: warten. Es wird der Tag kommen, an dem der Herr dich dort oder dort haben will, um Großes zu bewirken.

Alle diese Lehren können wir aus dem Buch Samuel ziehen. Eine alte Geschichte über längst vergessene Leute… Und doch sind sie für uns gläubige Christen brandaktuell. In einer um sich greifenden Apathie und Hoffnungslosigkeit gilt für uns, das Samuel-Charisma für sich zu entdecken und es zu leben. Es ist für mich der Kern des modernen Glaubens. „Der Christ von Morgen wird ein Mystiker sein oder er wird gar nicht mehr sein“ – schrieb Rahner. Das Fremdwort sollten wir heute durch „Gottes Freund“ ersetzen. Moderne Christen sollten ruhig diesen ehrenvollen Titel persönlich nehmen, so wie Samuel es tat. Die bischöflichen Ordinariate haben andererseits ganze Archive voll von ausgeklügelten aber erfolglosen Pastoralplänen, die auf den „geplanten“ Einsatz von Ehrenamtlichen warten. Solange die Kirche nicht lernt, die von Gott geschenkten Charismen der Mitglieder zu entdecken, zu fördern und einzusetzen, wird sie dem Heilsplan Gottes für diese Welt nicht begegnen. Jeder von uns trägt Kraft der Taufe und der Firmung ein Charisma in sich. Das Buch Samuel kann und helfen, es zu entdecken und zu leben. In jedem Teil steckt eine andere Stufe der Hineinwachsens in die ganz persönliche Berufung. Den Weg dorthin fasse ich kurz im Begriff „Samuel-Charisma“ zusammen.