Lehren aus Zeiten der Pandemie

Hat der emeritierte Professor für Medienwissenschaften in seinem Buch Recht, dass die Vernunft in unserer Gesellschaft gegen Gefühlsduselei mit einem vehementen Stampfen und Kreischen ersetzt werden soll? Ich weiß es nicht. In einer Zeit, in der Philosophen in einen Tiefschlaf gefallen sind und Ethik-Räte einen stringenten Denkansatz vermissen lassen, ist ein Buch wie dieses sicher eine spannende Weihnachtslektüre. Aber auch ohne diese merkt man in der Gesellschaft einen Mangel an Sachlichkeit, die einen skeptisch werden lässt.

Glaubensmangel

In meinem Büro hängt ein Plakat mit dem Bild des Schuhabdrucks auf der Mondoberfläche. Darunter das Wort „belief“ in Großbuchstaben. Was mag der Autor (oder auch derjenige, der es aufgehängt hat) mir damit sagen? Ich soll an die Landung auf dem Mond glauben? Warum denn eigentlich nicht. Ich glaube ja auch, dass es Kaiser Barbarossa oder irgend eine Art von Urknall im Universum gab. Sicher weiß ich das nicht. Ich habe weder mit dem Rotbart eine Nacht durchgezecht, noch habe ich das unglaubliche Licht des Anfangs gesehen.

Anscheinend gibt es eine nicht sehr kleine Anzahl an Menschen, die nicht davon zu überzeugen ist, dass es einen Keim gibt, der für einige menschliche Wesen extrem gefährlich und für andere kaum bemerkbar ist. Es sind keine dummen Menschen. Sie haben teilweise eine Hochschulstudium hinter sich. Dennoch sehen sie in ihrem Denken keinen Widerspruch zur Realität, sondern glauben sich sogar bestätigt.

Wie es scheint, ist die Annahme, dass es etwas geben kann oder nicht gibt, die absolute Grundlage für die Annahme der Wahrheit. Das ist bei Keimen so, bei Gott, bei der Mondlandung und bei der Rechtstaatlichkeit. Was man glaubt, bekommt man auch bestätigt. Was man nicht wahr haben will, wird man egal mit welchen Beweisen nicht wahr machen können. Oder wie mein Promotor immer gerne aus Nietzsche zitierte: „Den Reinen ist alles rein, den Schweinen ist alles Schwein.“

Information ist Vertrauenssache

Nicht nur im Geheimdienst gilt: Informationen können zu falschen Entscheidungen führen. Die Qualität des Rohstoffs wird im Endergebnis des Produktes erkennbar. Deshalb ist das Vertrauen in die Informationsquellen das A und O der Informationsvermittlung. Fällt man mehrmals als unzuverlässig oder parteiisch auf, stößt man bald auf taube Ohren. Das gilt für Freunde genauso wie für den überlähten öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Ich gebe zu, dieser Grundsatz gilt nicht immer und nicht unbedingt. “ ‚Was die Nachbarin erzählt hat‘ ist der Stoff, aus dem die Dorfmärchen sind.“ Hier ist nicht das Vertrauen so wichtig, sondern das Wahr-haben-wollen.

Die gefühlte Wahrheit

Ich habe im Leben das Pech, dass ich oft hinter ganz besonderen Autofahrern her fahren muss. Deren Motto scheint: „Außer Ort 60 – innerorts 60.“ Wenn man die Damen über 60 fragen würde, warum sie so fahren kann ich mir nur zwei Antworten vorstellen: A = Ich kann nur 60kmh fahren oder B = Im Ort war die Straße neben dem Kindergarten so breit und auf der Bundesstraße war ich vom Gegenverkehr geblendet. Die Antwort B hängt mit dem ganz privaten Sicherheitsgefühl zusammen und kommt öfter vor. „Ich schätze für mich selbst ein, wie schnell ich hier fahren kann.“ Ein trügerisches Gefühl.

Beim Wissen beobachte ich eine zunehmend breite Ablehnung der Wahrheitskriterien zu Gunsten der eigenen Empfindung. Man weiß nicht, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern man schätzt. Das geht mit der Statistik (die statistische Wahrheit) oder mit dem Gesetz der Großen Zahl (die Wahrheit der crowd) oder mit den eigenen Ahnungen und Intuitionen. Apriorische Erkenntnisse werden durch a posteriori wie Umfragen und Studien für falsch erklärt, wenn es einem in den Kram passt. Oder auch umgekehrt: Prinzipien werden ohne Rücksicht auf die Realität durchgesetzt, wenn man glaubt, dieses eine Prinzip wäre wichtiger als hundert andere, die ihm widersprechen.

Pandemie ist auch eine gefühlte Wahrheit. Solange man niemanden persönlich kennen gelernt hat, der einen schweren Verlauf der Erkrankung hatte, erscheint es einem so unwahrscheinlich, dass es fast unmöglich erscheint. Mögen die absoluten Zahlen hoch erscheinen, sind sie relativ kaum noch zu sehen. Jeder kennt einen Menschen, der Krebs hatte oder sogar daran gestorben ist. Oft sogar mehrere.

Das hat man vor einigen Wochen wohl auch im Bundesgesundheitsministerium festgestellt und neue „Werbespots“ mit Betroffenen gedreht. Es sei dahin gestellt, ob es wirklich Betroffene sind oder nur Schauspieler. Die gefühlte Wahrheit muss bedient werden.

Vertrauen als Persilschein, Angst als Hexenhammer

Zur gefühlten Wahrheit gehört, dass Vertrauen gegenüber Familie und Freunden wie ein Persilschein wirkt. Das Grundmisstrauen sparen wir uns für die Fremden auf. Sie sind die Keimschleudern.

Es ist für mich erschreckend, wie „das düstere Mittelalter“ (das historisch der frühen Neuzeit zuzuschreiben ist) über unsere Gesellschaft seinen Schleier legt. Nicht die Vernunft der Aufklärung oder das logische Denken des Aristoteles steuert unsere Mitmenschen sondern die Angst – die ‚german Angst‘.

Als Notfallseelsorger (oder fachmännisch: PSNV-Fachkraft) weiß ich um die Macht und Bedeutung der Gefühle im Leben des Menschen. Ich weiß aber auch, dass es für die Betroffenen nicht besser wird, wenn man ihre Gefühle spiegelt. Gerade in Kriesensituationen sind die Vernunft und eine gesunde Objektivität durch Feedback von außen gefragt. Falsche Betroffenheit und hundertprozentiger Mitleid machen handlungsunfähig. Begeben wir uns einmal auf das Niveau der Betroffenheitsethik, sind wir von Hexenverfolgung, wie sie Norddeutschland und Skandinavien vor einigen Hundert Jahren erlebt haben, nicht mehr weit. Wer ohne Maske in der Öffentlichkeit erscheint, wird wie ein Killer angeschaut, beschimpft oder angegriffen. Scheinbar hat keiner die mitgelieferte Bedienungsanleitung der „Nase-Mund-Bedekung“ (die auch andere Form annehmen kann) gelesen: „schützt nicht vor Ansteckung“ und „kann die Ausbreitung der Keime nicht verhindern“ – steht jedenfalls in meiner drin.

Getopt wird dieses Schwarzweißdenken noch von Ideen wie Impfpass als Passierschein oder App-Zwang. Der Machbarkeitsglaube gepaart von Unkenntnis der Statistik treibt zuweilen seltsame Blüten.

Unethik

So sind wir bei den Untiefen der modernen Ethik angelangt. Der Ethikrat der Bundesregierung legte sich fest: Jedes Menschenleben ist gleich viel wert. Ein schönes Prinzip. Lasst es uns konsequent auf die ungeborenen Menschen anwenden!

Der junge Vater von zwei kleinen Kindern wird nach einem Achzigjährigen in ein Krankenhaus eingeliefert. Nach zwei Tagen künstlicher Beatmung des Greises wird seine Prognose (Sauerstoffsättigung) immer schlechter. Währenddessen kämpft der junge Mann ohne einen Respirator um sein Überleben. Das Leben beider ist gleich viel wert. Dieses Dilemma ist von außen unlösbar und die Empathie des Krankenhauspersonals lastet sicher schwer auf dessen Psyche.

Es gibt nur eine Lösung für dieses ethische Problem und es kann nur von Innen geschehen. Vorbild ist Maximilian Maria Kolbe – ein kinderloser Mönch, der einem Familienvater buchstäblich „sein Leben“ schenkt. Niemand kommt auf die Idee, die noch vor Hundert Jahren nicht unüblich war: die Alten opfern sich aus freien Stücken für die Enkel auf – nicht weil sie es müssen, sondern weil sie es persönlich für sich aus dem Glauben als Lebensaufgabe erkannt haben. Das war sicher auch ein harter Schlag für die Kinder und Enkel, das eigene Überleben „dem Opa“ zu verdanken. Vielleicht auch führ Jahrzehnte belastend… Ich bin voller Respekt vor dem Mut dieser Menschen und hoffe natürlich, niemals ihre Rolle übernehmen zu müssen. Aber wenn es dazu käme, wird mich hoffentlich jemand daran erinnern.

Künstliche Beatmung nur gegen Impfpass“ eines saarländischen Humangenetikers ist ein Gegenpol zur Ethik-Kommission. Ein „Wer sich selbst nicht schützt, hat keinen Anspruch auf Schutz durch die Anderen“ wäre vielleicht noch vermittelbar. Wer sich schützt aber wegen Restrisiken nicht impfen lässt, würde dann schlimmer enden als jemand, der sich hat impfen lassen und aus blindem Vertrauen in die Medizin andere Schutzmaßnahmen unterlässt. Für mich grenzt der Vorschlag von Prof. Henn an Populismus. Das hätte ich von ihm wirklich nicht erwartet. Ich verbuche es als emotionales aber wenig rationales plakatives Appell, das Medien lieber kolporieren als trockene aber sachliche Informationen.

Summa summarum

In dieser Krisenzeit gab es natürlich auch viele guten Dinge. Der saarländische Rundfunk verstand endlich, dass sie nicht für die „Geschichten aus Ernas Vorgarten“ da sind, sondern einen Auftrag der Zahler haben. Sie wollen für uns recherchieren. Auch ich habe eine Frage zur ethischen Sauberkeit von Impfstoffen eingereicht und warte gespannt.

Die Funktionsfähigkeit des Katastrophenschutzes konnte man mit einigen Abstrichen ebenso beweisen. Die öffentliche Verwaltung ist nicht zusammen gebrochen. Die Gesundheitsämter haben hoffentlich verstanden, dass die bequemen Jobs aus Stoßzeiten haben und dass ihre heimliche Macht (die man unnötig mit Hindenburg in Verbindung brachte) nicht unendlich ist.

Es tut mir jedoch um das viele Gute Leid: Die Religionsfreiheit, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Insgesamt die Entfremdung zwischen Gläubigen und ihrem Kult… Die nüchterne Vernunft, die einer emotionalen „Wahrheits“-findung weichen musste… Das schwindende Vertrauen in eine Regierung, die Dringendes mit einem Verzug von einer halben Woche beschließt. Das Wissen, dass jeder von uns nur ein „armer Sünder“ ist und potenziell völlig unbeabsichtigt immer auch eine Gefahr für die Anderen ist.

Warum können wir nicht einfach wieder vernünftig werden? Es täte doch uns allen gut.