Das Bitten ist die Anerkennung der eigenen Ohnmacht. Es ist ein Zeichen der Demut und der Liebe zur Wahrheit. Deshalb finden wir in der ganzen Bibel Stellen, in denen die Bitte besonders hervorgehoben wird. Ob Abraham bei Sodom und Gomorrha, Mose in der Wüste, Jesus oder der Seher der Apokalypse – das Bitten ist omnipräsent, wenn auch nicht immer erfolgreich. Besonders spannend scheint mir das Evangelium nach Lukas im Kapitel 11 und die Botschaft an die Gemeinde in Laodizea aus der Offenbarung nach Johannes im Kapitel 3.
Die erste Frage ist: Warum spricht Jesus in Lukas 11 vom Freund und vom Vater? Er nutzt doch so gerne Beispiele wie Bauer, Bankier, Schatzsucher oder König. Aber nicht in diesem Fall. Hier muss es zunächst ein Freund sein, dann der Vater. Warum?
In der Charismatischen Erneuerung im Hl. Geist und bei den Freikirchen nimmt man diese Bibelstelle sehr ernst. Man bittet ganz „unverschämt“ und frei: Um Gesundheit für Freunde, um Unterstützung bei schweren Schicksalsschlägen oder für den verzweifelten Bekannten um ein neues Auto. Es geht aber noch „frecher“. Gebet um Heilung „direkt am Patienten“ ist keine Seltenheit, sondern so gehört selbstverständlich zur Praxis wie die Krankensalbung in der katholischen Kirche. Man erwartet selbstverständlich das Unmögliche. Zusätzlich zu den Anrufungen um Lösungen bei Alltagsproblemen, versteht sich.
Vielen Katholiken ist das suspekt. Die Meisten würden innerlich Gott den lieben Mann sein lassen, den sie aus den Kindertagen kennen: eine ominöse ferne Macht, die alles kann aber nichts beweisen muss. Gerne wird diese Haltung damit begründet, dass es schon beim Mose hieß, man solle Gott nicht auf die Probe stellen. Aber das ist nur ein frommer Zuckerguss über einem Glaubenskuchen, der kein Bisschen aufgegangen ist. Denn hier gilt auch ein anderes Wort:
Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt. Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich wirst; und kaufe von mir weiße Kleider und zieh sie an, damit du nicht nackt dastehst und dich schämen musst; und kaufe Salbe für deine Augen, damit du sehen kannst.
Off 3,17-18
Wie das zusammen passt, erfahren wir später. Stellen wir uns zunächst der ersten Frage: Warum gerade „Vater“?
Wenn wir diese Stelle lesen, werden wir in den Kirchen vor allem mit den „Techniken“ konfrontiert. Man fragt sich: Wie soll man beten? Worum soll man beten? In welcher Haltung soll man bitten? Aus welche Fürsprache soll man sich verlassen? oder sogar: Welche Gebete helfen am meisten? Doch nichts ist falscher als das. Gott ist weder ein Sparbuch, auf das man einzahlt, um in der Not abzubuchen. Er ist auch kein Kaugummiautomat, das man hier ziehen und da drehen muss, um das begehrte Gut zu bekommen. Gott unterliegt keiner uns bekannten „Mechanik“. Denn würden wir sie kennen, wäre er eine Marionette in unseren Händen, die weder frei noch allmächtig ist. Abgesehen davon, wäre es eine echte Gefahr, wenn im Sommer die Mehrheit permanent Sonne wünschte, während die wenigen Bauern für die Feldfrüchte und das Vieh dringend Regen bräuchten. Die zwei Gleichnisse haben eines Gemeinsam und diese Gemeinsamkeit ist der eigentliche Sinn: Gott will stets in einer Beziehung zu uns sein. Er möchte unser Freund sein und fürsorglich wie ein Vater.
Das Bild des Vaters muss hermeneutisch aufgefasst werden, das heißt aus dem damaligen Verständnis heraus. Väter waren damals vor allem die Verdiener, während Frauen mit der Versorgung betraut waren. Dass Jesus hier nicht von Mutter spricht, verblüfft. Es ist die Mutter, die Brot backt und die Essensvorräte im Blick hat. Sie ist der Ökonom und Verwalter. Doch nicht sie wird im Gleichnis gebeten – weder vom Freund noch von den Kindern. Ist das vielleicht ein versteckter Hinweis darauf, dass Gott über dem Natürlichen und dem Alltäglichen steht und über die Ökonomie des Möglichen hinaus greift?
Schauen wir die Vatergestalt genauer an! Der Vater ist laut Jesus ein liebevoller und um die Kinder besorgter Wohltäter. Er ist nicht launisch und abweisend oder gar von gemeingefährlicher Gleichgültigkeit geprägter Typ, wie er oft in Deutschland von Scheidungskindern geschildert werden. Wenn man sich die Frage stellen würde, was dieser Vater täte, wenn das Kind um eine Schlange oder einen Skorpion bitten würde, so würden wir sofort und mit größter Selbstverständlichkeit antworten: Er gibt dem Kind nichts Gefährliches in die Hand, dafür ist er zu gut. Ja, so einen Vater wünscht man sich! Und doch hat ein solcher Vater einen kleinen Makel. Er wird uns – auch weil er unser Freund ist – einiges Verweigern, so sehr wir ihn auch bitten und anflehen. Es sind Dinge, die für uns in der bestimmten Situation nicht gut sind.
Wir dürfen jedoch nicht wieder in die Mechanik des Betens abrutschen. Es geht nicht um die Technik, das wissen wir ja schon! Ein Aspekt der Göttlichkeit des Vaters kam noch nicht zur Sprache. Es ist eigentlich der Hauptgrund, warum wir nicht immer das bekommen, was wir für gut halten und möglicherweise auch objektiv für uns gut wäre. Es ist der göttliche Wille, hinter den wir nicht blicken können. Wir können uns vielleicht noch damit anfreunden, dass wir aufgrund der Erbsünde sterblich sind. Aber sobald es um den Zeitpunkt und die Umstände geht, ist man bereit, Gott Boshaftigkeit zu unterstellen. Ich möchte dem Leser keinen Ungehorsam im Glauben unterstellen, wenn er mit einem von Gott zugelassenem Unglück hadert, dem Schöpfer misstraut oder ihn anklagt. Wenn wir Jesus auf dem Ölberg in Erinnerung rufen, erkennen wir zwei Dinge:
- Auch Jesus stand seinem und unserem Vater sehr nahe. Er flehte ihn an, das Schicksal nicht erleben zu müssen. Und doch wurde er bitter enttäuscht. Er litt schon im Blick daraufhin, was mit ihm passieren würde. Trotz allem hat er das Band der Freundschaft nicht zerreißen lassen.
- Die Haltung Jesu ist die perfekte Haltung des Beters: Alles von Gott erhoffen aber nichts einfordern oder gar zu erpressen versuchen. Eine tiefe Demut als Anerkennung seiner Göttlichkeit und der eigenen „Niedrigkeit“ ist das Fundament.
Der Vater ist keine Zauberfee, die nur zur Erfüllung der Wünsche und zum Beschützen vor dem Bösen da ist. Das wäre eine Verzweckung. Wir wären Gott und er unser Diener. Auch zu erwarten, dass er alles Böse von uns fern hält, ist mehr als abwegig, denn dazu müsste er die Freiheit des Bösewollenden so stark einschränken, bis dieser eine schuldunfähige Marionette würde. Das bedeutet nicht, dass er Bösem gegenüber nichts entgegenzubringen hätte. Er ist bloß der Freiheit des Menschen gegenüber ohnmächtig. Es war DAS Geschenk Gottes an die Menschen und deshalb handelt er mit dem größten Respekt vor jeder menschlichen Entscheidung. Es muss schon viel Passieren, bis er den Lauf der Dinge ändert oder in die Materie eingreift. Und mit „viel Passieren“ meine ich nicht viele schlimmen Dinge, sondern viele guten Dinge: Bitten, Flehen, Danken. Vor allem Danken. „Dank ist der Schlüssel zum Schatz der Gnaden“ – meinte eine der heiligen Frauen (muss nur noch herausfinden, welche das war). Auch der Vater muss einen Grund haben, einem seiner geliebten Kinder Grenzen zu setzen. Eine Klage vieler seiner Kinder über diesen und der Dank für die Fürsorge sind wohl die besten zwei Gründe, die ein Vater haben kann. Schon deshalb ist das Beten nicht sinnlos!
Die bereits erwähnte Demut ist die wahre Haltung eines Christen: Sich in das Licht der Wahrheit Gottes zu stellen, die eigene Ohnmacht anzuerkennen und freimütig um alles zu bitten. Ja, um alles. Es stimmt zwar, dass Gott weiß, was wir brauchen noch bevor wir es selbst wissen und sagen – „wie die Vögel am Himmel“ (Mt 6,26). Auch ich weiß, dass mein Kind Süßigkeiten braucht und kaufe sie auf Vorrat. Erst wenn die Bitte geäußert wird, werden sie übergeben. Bitten steht in keinem Widerspruch zur Vorsehung. Im Gegenteil. In der Botschaft an Laodizea wird explizit darauf verwiesen, dass man nur bei Gott die notwendigen Dinge zu erbitten hat. Wer darauf verzichtet, weil er glaubt schon alles nötige zu haben, mag damit seine kindliche Gottesvorstellung zu retten. Aber ein Gott, der nie herausgefordert wird und wie eine Statue verstaubt in der Ecke zu stehen hat, ist kein Gott, sondern seine „Perversion“ bzw. eine Parodie. Sowohl Abraham mit seinem „Kuhhandel“ um Sodom als auch Elia auf dem Berg Karmel haben Gott herausgefordert. Auch wenn sie ihn auf die Probe gestellt hätten – was sie nicht taten – würde sich Gott nicht gänzlich verweigern, wie wir aus Psalm 95 Vers 9 wissen.
Das Bitten um ein neues Auto (das ja nicht fabrikneu, sonder einfach fehlerfrei sein muss), um einen guten Job (der ausreichend bezahlt und passend sein soll), um einen guten Ehemann bzw. eine gute Ehefrau, um Hilfe bei der Erziehung der Kinder (z.B. in Form von richtigen Beratern) oder um Heilung einer sogar leichten Krankheit ist immer Beziehung! Der Vater will gebeten werden! Er lässt zu, dass wir selber wurschteln und sogar an unserem Versagen verzweifeln. Manchmal erkennt man erst dadurch, dass es ihn gibt.
Manchmal verzweifeln wir aber auch an ihm. Er antwortet nicht, gibt uns nicht das, was wir brauchen. Mag sein, dass es nicht gut für uns ist… Aber angesichts von Tod junger Eltern? Für wen soll das gut sein? Für die Eltern? Für das Kind?
Nicht immer bekommen wir das, was wir wünschen. Auch wenn wir Ihn nicht verzwecken wollten und unser Wunsch objektiv in der Situation das Optimale für uns wäre. Manchmal leiden wir, obwohl wir wissen, dass wir einen guten – ja den besten – Vater haben. Wir werden nicht erlöst. Und dann?
Hierfür gibt es keine Lösung. Auch Enttäuschung (ob selbst verursacht durch zu hohen Anspruch oder nicht) gehört zu einer Beziehung dazu. Daran zu zerbrechen oder den Glauben an seine Güte zu verlieren geht dann schneller als gedacht. Da ist kein Patentrezept. Lediglich Demut bewahrt uns davor, diese Beziehung aufzukündigen. Und dafür gibt es kein besseres Beispiel als Jesus selbst. Sein Flehen um Leben wird nicht erhört, sein unendliches Vertrauen in den Vater enttäuscht. Dennoch verzweifelt er nicht und bricht die Beziehung nicht ab.
Die Vertrauenskriese, eine herbe Niederlage im Gebet, eine Lebenswunde durch einen schweren Verlust und angeknackste Beziehung müssen manchmal sein. Nur so wird die Beziehung echt. Wer an einen Gott glaubt, der nicht enttäuscht und vor allem Übel bewahrt, glaubt nicht an den Vater Jesu. Das ist die Antwort auf die tollkühne Erwartungshaltung in den Freikirchen, Gott würde sie über das Wasser laufen lassen, die sich manchmal sogar erfüllt. Sie aufzugeben wäre ein Misstrauen dem Vater gegenüber. Sie nicht erfüllt zu sehen ist keine Frage der falschen Gebetstechnik, sondern der Demut und des Vertrauens trotz Unglück.
Letztes gilt vor allem der katholischen Kirche, die trotz ihrer Treue zum Bräutigam und vieler, vieler Gebete in immer mehr Ländern „vor die Hunde geht“. Die triumphierende Kirche sollten wir mit dem 19. und 20. Jahrhundert zu den historischen Dingen legen. Der Herr enttäuscht uns. Ihn aber nicht zu bitten oder gar selber zu wurschteln, wie es auf dem Synodalen Holzweg aktuell passiert, ist ein Zeichen des Misstrauens. Irgendwann wird er sich schon seiner Braut annehmen und ihr den Schmuck schenken, der nur ihrer würdig ist. Verzweiflung ist die Bahn der Hochmütigen.
Manchmal ist die Enttäuschung im Gebet der einzige Weg, wie wir ihm beweisen können, dass wir ihn um seiner Willen lieben. Ob seine Liebe zu uns belastbar ist, wollen wir ja (durch das Bitten) auch wissen! Und er will es auch beweisen können! Bittet, dann wird euch gegeben werden!