Manchmal höre ich Geschichten, die mir gut gefallen. Einige davon kommen mir nach Jahren wieder in den Sinn. Doch sie sind meist unvollständig und suchen einen passenden Erzählbogen, der zur aktuellen Lebenssituation besser passt. Eine dieser Geschichten ist die von gutem Unkraut.
Vor gar nicht allzu langer Zeit in einer kleinen proviziellen Stadt, deren Name zu dieser Geschichte nichts beiträgt, lebte ein älterer Witwer, dessen größte Liebe sein Garten war. Er war ein komischer Kauz. Freundlich zu allen aber nicht allzu gesprächig. Nicht einmal seine Nachbarn verstanden, was er an seinem Garten hat. Von morgens früh bis abends spät wühlte und jähte er. Er bekäme für seinen Garten sicher einen Preis in jeder erdenklichen Kategorie – von Ästhetik bis Artenreichtum – wenn er nicht das hässliche etwas unerfreulich riechende Unkraut überall wachsen ließe. Mit anderen Worten: Es stank den Nachbarn, dass er die Ausbreitung der unbeliebten Pflanze in ihre Gärten fördert.
Doch der Alte wusste, was er tat. Er hat es von seinem Vater, dem promovierten Biologen, gelernt. Sein Vater war es auch, der diese seltene Pflanze erforschte und aus den tiefen Wäldern wieder in die Stadt brachte. Er gab auch seinem Sohn den Rat: Nutze diese Pflanze als Schutz vor Ungeziefer, sie ist der größte Freund deines Gartens. Also pflanzte der Gartenliebhaber das Unkraut – wofür er es anfangs hielt – immer wieder zwischen die Bete. Mit den Jahren gewann er immer mehr an Überzeugung, dass sein verstorbener Vater recht hatte. Seit Jahrzehnten musste er nicht um die Ernte bangen. Auch die Wespen und Stechmücken schienen sein Haus zu meiden.
Eines Tages wollte er es wissen. Was mag sein Vater über diese Pflanze erforscht haben? Er holte vom Dachboden die Kiste mit den Büchern seines Vaters., schlug die dicke aber kaum noch lesbare Dissertation auf und fing an, darin zu blättern. Es kam ihm wie eine Fremdsprache vor. Er verstand so gut wie nichts. Doch er gab nicht auf. Er las auch die anderen staubigen Bände und entwickelte eine Idee. Wenn es tatsächlich so ist, dass diese Pflanze die Stechmücken und Vespen fernzuhalten vermag, dann sollte es auch an anderen Orten funktionieren. Gegen Ende der Saison pflückte er die Ähren ab und entnahm die Körner – so viele er daraus nur gewinnen konnte. Mit den Samen in der Hosentasche ging er spazieren. Er nahm immer dieselben Feldwege um die Siedlung und man konnte nach ihm schon fast die Uhren stellen – so pünktlich war er. An jenem Tag hat er dabei etwas besonderes vor. Alle Paar Schritte griff er in seine Hosentasche und verstreute die Samen von dem Wunder-Unkraut. Er tat es heimlich, weil er die Missbilligung der Nachbarschaft befürchtete und es war auch nicht seine Absicht, jemanden zu ärgern.
Unglücklicherweise verstarb der Hobby-Biologe noch im Winter desselben Jahres. Seine Erben verkauften das Anwesen und verschenkten die wissenschaftlichen Bücher, mit denen niemand etwas anfangen konnte, an die städtische Bibliothek. Zum Bedauern der Bewohner wurde die Plage mit dem Unkraut dadurch nicht beseitigt. Im Gegenteil. Die Siedlung schien von der Pflanze umzingelt zu sein. Überall entlang der Feldwege sprießte das Unkraut. Da man zu faul und zu bequem war, kümmerte sich keiner darum. Jeder kümmerte sich nur um den eigenen Garten. Doch je länger es dauerte, desto seltsamer kam es den Menschen vor. Jahr für Jahr blieben die Stechmücken, die Vespen aber auch einige andere unliebsame Insekten weg und das nur auf dieser einen Siedlung. Ein junger Bewohner der Stadt – ein Biologiestudent – wollte der Sache auf den Grund gehen. Er begann mit der Erhebung der Arten von Insekten und Pflanzen, um die Siedlung und an anderen Orten in der Stadt. Als ihm die an sich sehr seltene Pflanze in dieser unheimlich hohen Zahl in der Statistik auffiel war er stutzig und konnte es sich nicht erklären. So fing er mit der Befragung der Anwohner an und stieß auf die Geschichte von dem alten Hobby-Gärtner, der Tag für Tag um die Anwesen spazierte.
Die Geschichte nahm sich der Student zum Anlass, diese Pflanze zum Thema seiner Abschlussarbeit zu machen. Wie erstaunt war er, als er in den Ferien in der örtlichen Bibliothek eine Fülle an Sachbüchern zu den seltenen Pflanzen fand. Noch unheimlicher kam es ihm vor, als er die Dissertation des Vaters jenes Gärtners darunter erkannte. Es war zwar nicht der aktuelle Stand der Wissenschaft aber es waren wertvolle Erkenntnisse über die Wirkung des beißenden Duftes der seltenen Pflanze – und das unter dem Nachnamen des alten Hobby-Gärtners. Die Geschichte ergab nun endlich einen Sinn. Es reichte doch nur eins und eins zusammen zu zählen, um die Lösung zu finden…
Der junge Biologe hat eine außerordentlich gute Abschlussarbeit geschrieben. Für sein Wissen interessierten sich auf einmal internationale Konzerne. Berühmt kehrte er in seine Heimatstadt zurück und bat die Bürgermeisterin, die ebenfalls in der besagten Siedlung wohnte, um die Einberufung einer Bürgerversammlung. Er wollte das Geheimnis der beseitigten Stechinsekten lüften. Dies geschah auch. Es kamen alle Bewohner. Doch nicht nur diese. Auch viele andere vom Ungeziefer Geplagte füllten den Saal. Er erzählte ihnen die Geschichte vom Doktor der Biologie, der das Haus erbaute, seinem Sohn, der für seinen Garten lebte und von der wunderbaren Vermehrung des Unkrauts. Die Fakten waren so einleuchtend und doch so unglaublich, dass einige Zuhörer über die Güte des wenig geselligen alten Mannes und ihre Geringschätzung ihm gegenüber mit Tränen in den Augen nachdenken mussten. Noch am selben Abend gründeten sie einen Verein zur Erforschung der seltenen Pflanzen und beschlossen, als ersten die Bibliothek zum Zentrum der Forschung zu machen.
Das Unkraut ist das Gute. Es ist nicht sehr beliebt, weil es mühevoll sein kann und meist einen Verzicht bedeutet. Wer das Gute wirklich auch leben will, wird dadurch auch nicht unbedingt beliebt. Doch was für mich gut ist, ist auch gut für die anderen. Es muss jemanden geben, der mit dem Beispiel voran geht.
Was ist das Gute? – fragst Du mich. Lese den Nachlass Deines Vaters. Die „Dissertation“ ist nicht leicht zu verstehen. Aber Du findest es heraus. Folge seinem Beispiel. Höre auf seinen Rat.