Tremendum et fascinosum – oder: Die Avantgarde der Angst. Eine Rezension

Es gibt Bücher, die muss man gelesen haben. Es gibt Bücher, die man sich ersparen sollte. Und es gibt Bücher, die man erst recht lesen sollte, auch wenn man sich über sie ärgert und sie an liebsten hätte öffentlich verbrennen lassen. Dann gibt es Autoren, die man unbedingt angeben muss, um als „Intellektueller“ zu gelten. Und es gibt Autoren, die man niemals nennen darf, um als „Intellektueller“ zu gelten. Das Buch von Norbert Bolz ist genau in der Mitte und ich habe lange überlegt, ob ich es überhaupt erwähne. Schon die Gefahr, von Meinungsdiktatoren abgestempelt zu werden, ist heute größer als im Mittelalter der Inquisition persönlich zu begegnen. In einer langweiligen Welt, die nur noch eine Meinung gelten lässt, möchte ich keinesfalls leben. Also kratze ich meinen letzten Mut zusammen.

Die lateinischen Begriffe im Titel werden nur den Altphilologen oder Theologen etwas sagen. Ich habe sie bei Prof. Niewiadomski so oft gehört, dass sie in meinem Gehirn ein eigenes Zentrum – irgendwo zwischen Hypothalamus und Sprachzentrum – bekommen haben. Er meinte damit das erschreckende und faszinierende Mysterium unseres Heils. Erschreckend und zugleich faszinierend ist aber auch der Inhalt der Avantgarde der Angst. Man will nicht, dass es wahr sei und doch ist es so anziehend und überzeugend, dass man noch mehr erfahren will. Ähnlich einem Thriller kann man bei dieser Lektüre nicht mit dem Lesen aufhören, auch wenn man grauenvolle Dinge auf jeder Seite zu befürchten hat.

Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören? Sie wissen es nicht? Dann fangen wir mit dem Schlimmen an!

Unsere Gesellschaft ist primitiv, unaufgeklärt (aufklärungsfeindlich) und alles andere als tolerant. Selbständiges Denken ist genauso unerwünscht, wie die Pluralität. Der größte Feind des medial gesteuerten Mainstreams ist nach wie vor die Tradition der kritischen Beobachtung, die nur noch wenige praktizieren. Der pseudowissenachaftliche Aberglaube und die Gravitationskraft der großen Masse sind hingegen der Brennstoff des heulenden Mainstream-Motors.

So oder ähnlich fällt die Analyse des Zustands unserer Gesellschaft in diesem Buch aus. Sie ist gut begründet und an gebrachten Entwicklungsbildern gut nachvollziehbar. Es fehlt lediglich ein Index der Störungen wie „Massenhysterie“, „Aberglaube“ oder „Intoleranz“, so dass man gezwungen ist das kurze Werk ganz zu lesen. So viel zu „tremmendum“.

Das faszinierende an diesem Buch sind dagegen die Sachlichkeit und die Liebe zur Betrachtung aus einer gesunden Entfernung. Die Dinge erscheinen dann nämlich wie ein Ameisenhaufen oder als Irrenhaus oder als die erste Klasse einer Grundschule. Unvernünftig, kleinkariert, total verrückt oder schlicht komisch wirken die großen Utopien dieses und des letzten Jahrzehnts. Die Zitate von Huxleys, Orwell, Luhmann, Gehlen, Weber und Heidegger (um nur einige zu nennen), die die Sichtweise des Autors bestätigen, verbieten jedoch dem Leser, darüber zu lachen.

Angst sells – vor allem die German Angst – ein Kassenschlager der Nachrichtensender. Ja, ganze Wissenschaftszweige leben nur noch davon – und das gar nicht schlecht! Propaganda will gelernt sein, dann klappt das auch mit den locker sitzenden Steuermitteln. Man muss die anderen Apokalypsen nur zu toppen wissen…

Neue säkulare Religionen sprießen und gedeihen auf diesem Nährboden prächtig. Die Notsüchtigen, die keine echten Probleme in einer Vollkaskogesellschaft mehr haben, erfinden welche oder blähen Mücken zu Elefanten auf. Die quasireligiöse Psychodynamik der Selbsterlösung, deren Gottheit z.B. das Klima ist und deren Weltuntergangspropheten Greta oder noch einfacher „Aktivisten“ heißen, als massenhysterisches Phänomen erwächst zu einem Quasi-Kirchenapparat mit samt Index verbotener Meinungen, Inquisition und Hexenjagd.

Infantilität, Apokalypse und Gefühlsduselei sind in! Das widerspricht jedoch dem aufgeklärten und vernünftigen Menschen. Die Massenmedien, die der Autor (Kommunikationswissenschaftler) nicht aus der Verantwortung entlässt, scheinen mir – seit ich Postmans „Wir amüsieren uns zu Tode“ kenne – die Hauptursache für diese Fehlentwicklungen zu sein. Wo findet man noch eine echte sachliche Debatte, in der man unter Verzicht auf malerische Einzelschicksale nüchtern und wertschätzend um die richtigen Prinzipien und ihre Anwendung ringt?

Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert. Jeder Religionswissenschaftler kann mit diesem Buch das Entstehen neuer Religionen studieren. Ein noch nicht sehr belesener Philosoph bekommt die Philosophie von Rousseau bis Spaehman in prägnanten Zitaten zusammen gefasst. Müde darf man bei dieser Lektüre also nicht sein. Auch ein anständiges Lexikon auf Papier hilft weiter, wenn man den Unterschied zwischen Tugend- und Verantwortungsethik noch nicht kennt. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um plumpen Populismus oder bloße Polemik, sondern um ein Stück hart zu erarbeitenden Allgemeinbildung eines Europäers. Eine echte Rarität.

Alles in allem: Anspruchsvoll, kritisch und erfrischend anders.