Ich möchte mich heute erneut zu einem politischen Beitrag hinreißen lassen. Ich habe einen Grund dafür. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich, dass etwas mit unserer Demokratie nicht stimmt. Der Staat – teilweise mit der Entschuldigung, dass die EU uns das vorschreibt – häuft Macht und Einfluss an, wie seit 1947 nicht. Die Linken werden mir vorwerfen, dass sie gegen die Übermacht des Staates siegreich gekämpft hätten und uns viele Freiheiten erstritten hätten. Ich möchte beweisen, dass wir auf dem besten Wege zurück zu einer Staatsform sind, die mit der Bonner Republik gar nichts mehr gemeinsam hat.
Hoffen auf den Führer
Ein ängstlicher Mensch tendiert dazu, seine bescheidene Macht als Individuum auf einen anderen zu übertragen, der den Anschein erweckt, mehr Durchsetzungsvermögen zu haben als er selbst. Das ist jedoch kein demokratischer Prozess der Übertragung von Stimmen auf einen Mandatsträger. Diese legale und moralisch völlig unbedenkliche Vorgehensweise ist so lange gut und nützlich, solange der gewählte die Meinung des Wählers vertritt. In einem Jahrzehnte langem Prozess haben wir aber diese enge Bindung schrittweise gelockert. Überlagert von Vorwürfen einigen sich Parteien, Menschen aufzustellen, die die Meinung der Partei (vielmehr ihre Wahlversprechen) vertreten. Der Bürger muss also eine Partei finden, die zu ihm passt. Und diese muss auch noch einen Kandidaten aufstellen. Im Vorbeifahren blicke ich gerade an einer Kreuzung auf das Wahlplakat von Markus Uhl, den ich aus meiner Zeit in Saarpfalz kenne – ein ehrlicher Typ und treuer Parteisoldat der CDU. Ich mag seine ruhige Art. Was mich an ihm jedoch stört, ist seine Inkonsequenz und seine Sprachlosigkeit. Wenn ich ihn wählen könnte, wäre er meine zweite Wahl, denn das Bessere ist des Guten Feind. Ein wenig Durchsetzungsvermögen mehr darf schon sei, wenn jemand mich vertreten soll. Eine Alternative gibt es schon, die jedoch wegen der Gesetzgebung kaum Chancen hat, einen Kandidaten aufzustellen. Die Zulassung zur Bundestagswahl ist an so hohe Hürden geknüpft, dass man eher von Demokratieverhinderungsgesetzen sprechen sollte. Vielen bleibt nur die zweite Wahl oder noch schlimmer: Wahl zwischen Pest und Cholera. Angesichts der vielen Probleme, die zu bewältigen sind, wünscht man sich vor allem einen ganz bestimmten Typ: Einen starken Anführer, der die Millionen der Schwachen um sich scharrt. Aber genau das ist eine starke Verführung. Ein von Sehnsüchten völlig überlagetrer „Führer“ wird sein Versprechen nicht halten können. Zu viele und zu unterschiedlich sind die Hoffnungen auf Besserung. Wie schon einmal in unserer Geschichte, wird sich diese Persönlichkeit versuchen, alles zu bestimmen. Die Macht korrumpiert. Das einzige Antidotum gegen solche Missstände ist eine Vielzahl an Parteien, die den Konsens täglich neu erarbeitet. Denn – wie jemand irgendwann sagte (ich vermute den polnischen Prof. Geremek) – „die Demokratie besteht aus Tausend Farben“. (Also auch nicht drei Grundfarben oder vier oder fünf. Ocker, Braun und Orange sind völlig verschieden, obwohl Schattierungen nur einer Grundfarbe.)
Einmischung des Staates
Gefährlich wird für die Demokratie nicht nur die Konzentration auf einen einzigen „Retter“ (egal von welcher Weltanschauung – die unweigerlich zu zunehmender Spaltung der Gesellschaft führen wird), sondern auch die starke Einschränkung der Auswahl der Parteien. Die knappe Auswahl und die zusätzlichen Hürden wie die 5% führen dazu, dass Menschen entweder verzweifeln und nicht wählen gehen oder übermotiviert denjenigen wählen, der die Hürde nimmt, auch wenn er ähnliche Überzeugungen aber in extremer Weise vertritt. Damit ist der Aufstieg solcher Parteien zu erklären wie: die Linke, BSW oder die AfD – und vermutlich auch der Grünen.
Die magischen 5% (warum nicht 1% oder 10%?) sind ein Übel. Doch es gibt ein größeres. Denken wir einmal zurück an die alten Griechen. Die von ihnen entwickelte Staatsform der Demokratie (wohl noch nicht in der heutigen Form, da sie weder Mandate noch Wahl durch Sklaven oder Frauen vorsah) war eine Absage an die (Erb-)Monarchie, (ethische) Stammesherrschaft oder den religiösen Gottesstaat. Sie ging vom Volke aus und ordnete, was das Volk beschlossen hatte. Die Gesellschaft beauftragte einige Wenige mit der Ausführung. In der Nikomanischen Ethik sah Aristoteles die klügsten und edelsten Bürger für diese Aufgabe vor. Das war die Regierung. Nach 2000 Jahren (es war kurz nach dem Frühling der Völker 1848) hat jemand gemeint, man brauche ein eigenes Parlament, das aus dem Volk hervor geht. Die mittelbare Demokratie war geboren. Man setzte (teils) unabhängige Richter ein und die vier Gruppen trennten sich vom Einfluss der Religionen ab. Damit entstand die Fünfteilung: Exekutive, Legislative, Judikative, die Gesellschaft selbst und ihre geistigen Wurzeln – die Religionen. Später kamen zu den Religionen auch Weltanschauungen und Ideologien, die teils mit Parteien identisch waren. Heute wird eine etwas zweifelhafte Vermischung von Regierung (oder regierenden Parteien) und Gesellschaft beobachtet. Die sog. NGOs sind nicht nur eine Verkörperung einer Ideologie, sondern ein Werkzeug der Regierung, um Proteste zu organisieren oder Menschen zu diffamieren. Vor allem Letzteres sollte die Regierung (die sich mit Hilfe des Majestätsbeleidigunsparagraphen 188 StGB schützt) mit aller Härte ablehnen, wenn sie moralisch noch ein wenig Anspruch hat. Ethisch geboten erscheint auch der Verzicht auf die Finanzierung der gefälligen NGOs. Würden wir heute das Jahr 1938 mit unserem heutigen Wissensstand schreiben, wäre es jedem klar, dass schon die Duldung ein No-Go ist und erst Recht die Finanzierung solcher Organisationen. Und wüssten wir es nicht, was damals passierte, müsste es die Aufgabentreue und der treuhänderische Umgang mit dem Vermögen der Gesellschaft richten: Geld aller Bürger zu nehmen und denen Anhängern einer Partei zu geben ist unfair – das weiß jedes Kind. Eine gerechte Parteienfinanzierung die anteilig an der Zahl ihrer Mitglieder bemessen wird, wäre hingegen eine Förderung des gesellschaftlichen Engagement. Nicht die Regierung hat die Gesellschaft zu prägen, sondern die Gesellschaft die Regierung. Nicht erst seit „Omas gegen Rechts“ wissen wir, dass das Verhältnis nicht ganz richtig ist.
Was die Kirchen anbetrifft, haben wir es mit einem Foul mit Eigentor zu tun. Einige wenige links angesiedelten Organisationen möchten im Namen Gottes sprechen. Das verdient eine Rote Karte. Die Kirche definiert in Summe relativ klar, was die Aufgabe des Christen ist und welche moralischen Maßstäbe für ihn gelten. Eine Auffrischung ist nie falsch. Wenn die Lehre der Kirche auf einige wenige (durchaus bestreitbare) Behauptungen eingeengt wird und diese mit der Autorität Gottes anklingen sollen, handelt es sich eindeutig um Missbrauch der Religion für ideologische Zwecke. Die Komplexität der christlichen Sozialethik ist so hoch, dass die nicht auf einige plumpe Sätze komprimiert werden kann. Wer die Prinzipien kennt und die alternative Deutung im Glauben und Tun vertreten kann, wird den Missbrauch schnell erkennen. Die Folge wird sein: die Glaubwürdigkeit der Kirchen geht in den Keller – das ist das Eigentor.
Pseudodemokratische Entscheidungen und Gremien als Begründung
Es gibt NGOs wie Sand am Meer. Und dann gibt es die neuen Pseudoparlamente: die Bürgerräte. Noch sind es wenige aber ihre Zahl steigt. Vermutlich weil die Enttäuschung der Bürger über die Partei-Politik der Parlamente zunimmt, suchen sich die Regierungen ein anderes Feigenblatt – eine Rechtfertigung für ihr planloses und oft Ideologie-getriebenes Tun. Bisher waren es Experten und Berater, die für viel Geld den Regierenden ein Blanko-Check ausstellten. Das reicht nicht mehr. Es müssen ahnungslose Bürger sein, die angeblich nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfelt wurden. Hier wird ein Widerspruch offensichtlich. Entweder sind es Fachleute, die der Regierung mit ihrem Wissen ein wohl begründetes Nein entgegen halten können oder es sind zufällige Menschen, die im Schönheitswettbewerb der Regierung Beifall klatschen sollen. Die Regierung will nicht, dass man ihre Pläne kritisiert und verbessert. Sie will nur eine völlig unverbindliche Beratung, die später der Allgemeinheit als Bonus präsentiert werden soll. Solche Bürgerräte kennen wir aus dem Kommunismus, wo zufällig immer die Richtigen saßen und fast immer einstimmig waren. (Genauer gesagt, war es die Zeit als es die Kommunistische Partei noch nicht gab, die später von oben herab regierte und nur bestimmte Parteimitglieder über das Schicksal eines ganzen Landes – ebenfalls einstimmig – entschieden.)
Fazit
Um die Demokratie ist es bei uns nicht gut bestellt. Die tiefen Einschnitte in die Meinungsfreiheit sehen viele Deutsche kritisch. Auch dem amerikanischen Vicepräsident fiel es auf: Europa und USA teilen nicht mehr dieselben Werte. Die freiheitliche Verfassung, die dem Staat nur dann das Recht zu handeln gibt, wenn jemand einen ernsthaften Schaden zu nehmen droht, kennen wir in Deutschland nicht mehr. Wir sind – wie es Professor Tischler formulierte – ein „Homo Sowjeticus“ geworden: einer, der alles vom Gouvernantenstaat erwartet und nicht im Rahmen seines privaten Engagements erreichen will. Eine Vollkaskoversicherung gegen alle Misserfolge, Fehler und Verluste im Leben gibt es nicht. Auch der Staat ist es nicht. Denn was ist der Staat? Das sind wir – die Gesellschaft, die ihre Werte nicht von der Regierung hat, sondern aus der Religion und dem Ideenwettbewerb nimmt. Man kann nicht das Böckenferde-Diktum überwinden, ohne einen totalitären Staat zu schaffen. Die klaren Grenzen zwischen dem Fünfteiligen Subjekt Kirche-Regierung-Parlament-Gericht und -Gesellschaft darf man nicht verwischen. Sie müssen aufeinander wirken und voneinander lernen. Und hier sind Grenzen zu beachten. Keine Religion oder Ideologie darf im Staat Gesetze erlassen. Die Regierung hat kein Recht, Neusprech (Orwells1984) mit Gendern einzuführen oder Begriffe wie „Familie“ nach Belieben umzudefinieren. Die Gesellschaft darf wiederum nicht durch Massenproteste das Parlament oder eine demokratisch handelnde Regierung handlungsunfähig machen, wenn dabei einfach nur Mehrheitsdiktatur entstünde. Zwischen Alledem ist die Presse, die aus der Mitte der Gesellschaft entspringen muss und nicht von der Politik abhängig gemacht werden darf: weder von der Gesetzgebung um Lohn gebracht noch von Regierungen mit großflächiger Werbung „bestochen“ werden. Es ist schon schlimm genug, dass unsere Richter nicht von Richtern ausgesucht und eingesetzt werden, sondern von Politikern.