Eine KI-Weihnachtsgeschichte

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Seit einigen Wochen setzte mein Gehirn eine Geschichte als Zusammenschnitt einiger Filme zusammen. Als mittelmäßig begabter Schriftsteller habe ich eine Rohfassung entworfen und verschiedene KIs als Vergleich gegeneinander antraten lassen. Der Sieger ist GPT 5.1 high (liebevoll „GiaPeTto“) genannt. GPT hat die Rohfassung am besten verstanden und am blumigsten (umfangreich, viele Dialoge, poetisch) geschrieben. Am witzigsten – wohl nur für Informatiker – schrieb qwen3-max-2025-09-26 eine sehr kurze Geschichte voller IT-Begriffe. Seine Schwäche waren nicht die typischen „Kowalski“ sondern die Piroggen, welche keine Ähnlichkeit mit Pfannkuchen haben. Grok 4.1 (beta) war an sich nicht schlecht aber es fehlte ihm (genauso wie dem Expertenmodus von 4.0) eine ausgeglichene Länge einzelner Abschnitte. Die Sprache ist auch nicht reichhaltig. Sonnet 4.5 von Claude hat mir zwischenzeitlich am besten gefallen, weil er viele Dialoge eingebaut hat und nicht zu detailliert geschrieben hat. Es ist eine ausgeglichene und nicht zu witzige Sprache mit kleinen Schwächen: Marc weiß sofort, dass Huggins anruft, obwohl er seine Nummer nicht kennt. (Das Zurückhalten von Wissen vor dem Leser ist insgesamt eine Schwäche von allen KIs.) Abschnitte aus mehreren Sätzen ist auch etwas störend. Aber die Erzählweise ist wirklich schön. Enttäuschend war Gemini von Google. Unausgeglichen und mit einigen Fehlern und vor allem zu technisch. Manchmal fehlt ein Übergang zwischen Szenen oder Abschnitten. Aber insgesamt nicht wirklich schlecht.

Überraschend haben alle KIs den Stadtplan verstanden: Die Ringstraßen mit Primzahlen und und die Potenzzahlen als Strahlen. Leider ging es einigen unter, dass es nur Hoch-Zwei genannt wurde, doch einige haben höher gezählt (wie Sonnet oder QWEN). „Straße: S 4, Ring: 7, Stadt: wie bei ihm“ bei Giapetto ist mit dem Ring vorgeprescht völlig sinnlos. Sonnet kriegt es besser hin: „Straße 2, Hausnummer 16, Wohnung 7“. Gemini versteht aber nicht, dass das Jesaja-Zitat zum Verständnis des Moments entscheidend ist. Darin steht, dass es um ein Kind geht.

Und nun überlasse ich Euch die Bewertung. Zum Vergleicht mein Prompt (Rohfassung der Geschichte mit Anweisungen) eindiktiert als Test mit verschiedenen KIs mit Hilfe von Speech Note


GPT

Wenn an Heiligabend früher etwas abgestürzt war, dann höchstens die Laune seiner Eltern – nicht der CUDA‑Treiber der NVIDIA‑Grafikkarte, dachte Sławek.

Auf dem Bildschirm blinkte die Fehlermeldung wie ein trotziges Kind:

„CUDA driver error: unknown error. Device reset required.“

„Unknown error“, murmelte er. „Das sagt ihr immer, wenn ihr keine Lust habt, nachzudenken.“
Sein rechtes Augenlid zuckte. Seit drei Tagen trainierte er ein neuronales Netz, das menschliche Emotionen besser erkennen sollte als er selbst. Ironie des Jahrhunderts: Der Junge, der mit Menschen nicht klarkam, brachte Maschinen bei, Menschen zu verstehen.

In seinen Informatik‑Kreisen kannte ihn kaum jemand als Sławomir oder Sławek. Dort war er „Higgins“ – ein Name, den man in jedem Land aussprechen konnte, ohne zu stolpern. Die Kollegen tippten „Higgins“ schneller in den Chat als „Sławomir“ auch nur denken konnten. Seine Eltern hätten es nicht gemocht. Sie hatten ihn nach einem Onkel in Katowice benannt, in der Hoffnung, irgendwann nach Polen zurückzugehen. Sie waren kurz nach 2000 nach Deutschland eingewandert, mit Diplomen in Technik und Betriebswirtschaft und der Überzeugung, dass man hier mit Wissen weiterkomme als mit Beziehungen.

Das Klingeln an der Wohnungstür schnitt durch seine Gedanken. Kurz, entschieden, sachlich – wie alles in dieser Stadt.

„Natürlich. Jetzt“, sagte er leise. „Wenn der Treiber stirbt, kommt die Post.“

Einen Moment lang blieb er sitzen. Der Reflex, sofort die Logs zu checken, war stark. Andererseits: Heiligabend, früher Nachmittag. Wenn jemand ihm etwas schicken wollte, dann heute. Vielleicht seine Eltern. Vielleicht ein alter Schulfreund, der noch nicht begriffen hatte, dass Higgins keine Geschenke mochte.

Es klingelte ein zweites Mal, drängender.

Er klappte das Laptop seufzend zu. Eine tiefe Analyse des Fehlers hätte ohnehin Stunden gedauert, und im Moment wusste er nicht einmal, wo er anfangen sollte. Der Bildschirm erlosch, und mit ihm das bequeme Alibi, sich nicht mit der Außenwelt befassen zu müssen.

An der Tür stand ein Mann in der standardisierten Uniform der Logistikbranche: Mütze, Jacke, das Logo irgendeines Konzerns, der Pakete schneller bewegte als Gedanken.

„Paket für Sławomir… eh… Schlawek…?“

„Hier“, sagte Sławek und nahm ihm das Paket ab. „Danke.“

„Schönen Heiligabend“, murmelte der Bote schon im Weitergehen, ohne eine Antwort zu erwarten.

Das Paket war unscheinbar: grauer Karton, maschinell gedruckter Aufkleber, ein Barcode wie eine kleine Stadt aus schwarzen und weißen Balken. Absender: ein Logistikzentrum mit kryptischem Namen, das ihm nichts sagte. Aber die Adresse stimmte.

„Ich habe doch gar nichts bestellt“, sagte er in die leere Wohnung.

Für einen Moment zog es ihn zum Laptop zurück. Nur kurz noch die Fehler‑Logs ansehen, nach „unknown error“ suchen, vielleicht gab es ja schon einen Foreneintrag. Dann fiel sein Blick wieder auf das Paket.

Es ist Heiligabend. Wenn du jetzt den Debugger startest, bist du endgültig verloren, dachte er.

Er schnitt den Karton auf. Zwischen Luftpolsterfolie lag eine Packung mit sechs Babyflaschen, sorgfältig eingeschweißt.

Er starrte sie an, als hätte jemand ihm ein Ersatzteil für ein fremdes Lebewesen geschickt.

„Sehr witzig“, murmelte er. „Maschinelles Lernen ja, aber so weit bin ich noch nicht.“

Unter der Plastikverpackung knisterte ein Blatt. Eine Rechnung. Andere Bestellnummer, andere Adresse, anderer Name: Anne Kowalski, Straße: S 4, Ring: 7, Stadt: wie bei ihm.

„Aha“, sagte er. „Nicht mein Paket.“

Das schlechte Gewissen setzte schneller ein als der Ärger. Irgendwo in dieser Stadt saß wahrscheinlich eine Frau, die auf dieses Paket wartete. Vielleicht heute. Vielleicht war es wichtig. Für ihn waren sechs Flaschen nur sechs Objekte aus Kunststoff. Für jemand anders waren sie… etwas anderes.

Er riss die Tür auf und lief in den Hausflur, die Packung unter den Arm geklemmt. Die Stufen nahm er in Zweierschritten. Unten vor der Haustür war der Lieferwagen schon verschwunden. Kein gelbes, kein weißes, kein irgendein Auto mehr. Nur die klare, kalte Luft des Dezember und der Geruch von nassem Beton.

Die Postfiliale lag vielleicht zwanzig Minuten entfernt. Die Adresse auf der Rechnung ebenfalls, nur in die andere Richtung. Wenn er die Flaschen bei der Post reklamierte, würden sie in irgendeinem Verteilzentrum verschwinden, um in ein, zwei, drei Tagen neu zugestellt zu werden. Wenn er sie selbst hinbrachte, wären sie in einer halben Stunde am Ziel.

Algorithmen optimieren Wege, dachte er. Menschen manchmal auch.

Er trat auf den Gehweg. Der Stadtplan schrieb sich von selbst in sein Gedächtnis.

Diese Stadt war nicht gewachsen, sie war entworfen worden. Ein Informatiker – niemand erinnerte sich mehr an seinen Namen, nur an seinen Beruf – hatte das Straßennetz konstruiert wie ein Datenschema. Namen waren ihm zu emotional, zu politisch, zu streitbar. Also hatte er sie abgeschafft.

Rund um das künstlich gesetzte Zentrum lagen konzentrische Ringe, nummeriert mit Primzahlen: 2, 3, 5, 7, 11, 13 und so weiter, wie die Schalen eines Zwiebelsystems. Von dort aus führten Straßen in die vier Himmelsrichtungen, bezeichnet mit einem Buchstaben und einer Zahl: N, S, O, W plus eine Potenz einer Primzahl. Man konnte eine Adresse lesen wie eine Formel.

Sławek wohnte an der S 49, einem Ausläufer des 7er‑Rings. Die Frau auf der Rechnung, Anne, wohnte an der S 4, nahe der 2, also dicht am Zentrum.

Von S 49 zur 7, ein Stück auf dem 7er‑Ring bis zur S 4, die von der 2 abgeht, dann rein Richtung Zentrum, rechnete er im Kopf. Kein Problem.

Die Navigation in dieser Stadt war trivial, wenn man multiplizieren und dividieren konnte. In gewisser Weise war das System genial. In gewisser Weise war es unmenschlich. Wer hier wohnte, war in erster Linie ein Koordinatenpaar.

Er zog seine Funktionsjacke über – eine Jacke, die eher für Polarexpeditionen als für städtische Spaziergänge gemacht war. Wie alles, was er mochte, war sie funktional, überdimensioniert und ein bisschen übertrieben.

Draußen war es kalt, aber nicht dramatisch kalt. Die Straßen waren sauber, vielleicht zu sauber. Die Häuserblöcke standen in ihren Rasterfeldern wie ordentlich abgelegte Datenpakete. Funktionalistische Fassaden, kubistische Balkone, wenig Farbe, keine überflüssige Verzierung. Die Bäume in den Vorgärten waren zu Kugeln geschnitten, alle gleich groß, alle gleich weit auseinander. Es sah aus, als hätte jemand ein grünes 3D‑Modell in den grauen Granit gepflanzt.

In dieser Stadt war Effizienz ein Gebot. Schönheit war ein Nebenprodukt, das man sich nur leistete, wenn es nicht störte.

Sławek marschierte, das Paket unter dem Arm, und stellte fest, dass es ihm erstaunlich leichtfiel, eine Aufgabe zu erledigen, die nichts mit Computern zu tun hatte. Vielleicht, weil sie so klar definiert war: Nimm Objekt A, bringe es zu Koordinate B. Kein Interpretationsspielraum, keine Gefühle, keine Diskussion.

Die S 4 lag in einem dieser Mehrparteienhäuser, die alle gleich aussahen: vier Stockwerke, rechteckige Fenster, glatter Putz, pseudo‑Vorgarten mit exakt drei Kugelbäumchen auf grauen Steinplatten. Es gab ein Haustelefon an der Tür; es war nötig, um überhaupt hineinzukommen.

Sławek sah auf die Rechnung. „Anne Kowalski, S 4, 2. OG.“

„Schnell abgeben und zurück an den Rechner“, dachte er und drückte auf die Klingel neben dem passenden Namen.

Es knackte im Lautsprecher. Eine Männerstimme meldete sich.

„Ja?“

„Ähm, guten Tag“, begann Sławek und merkte im selben Moment, wie formell er klang. „Hier ist… Sławomir. Also… Higgins. Ich habe ein Paket bekommen, das für Ihre Frau bestimmt ist, glaube ich. Sechs Babyflaschen. Falsch zugestellt.“

Eine kurze Stille. Dann:

„Wie heißen Sie?“

„Sławomir. Aber… meine Freunde nennen mich Higgins.“

„Also, Higgins“, sagte der Mann. „Warten Sie, ich komm runter?“

„Es ist okay, ich kann auch…“

Ein Surren unterbrach ihn. Die Tür entriegelte sich.

„Kommen Sie ruhig hoch, zweiter Stock“, sagte die Stimme. „Ist einfacher.“

Die Treppe war aus demselben grauen Stein wie alles andere. Im zweiten Stock drückte Sławek auf die einzige Wohnungstürklingel im Flur. Schritte, ein leises Poltern, dann wurde die Tür geöffnet.

Vor ihm stand ein Mann Mitte zwanzig, blasse Haut, dunkle Augenringe, ein T‑Shirt mit einem ausgeleierten Aufdruck. Hinter ihm, im Halbdunkel der Wohnung, bewegte sich eine Frau. Sie hatte sich an den Türrahmen gelehnt, als müsste sie sich daran festhalten.

Noch bevor er etwas sagen konnte, traf ihn ein Geruch.

Es war, als hätte jemand eine verschlossene Schublade seiner Kindheit geöffnet. Warmer Teig, Sauerkraut, Pilze, Zwiebeln, ein Hauch von getrockneten Pflaumen und etwas, das er nicht sofort einordnen konnte – vielleicht Piment, vielleicht Majoran. Der Duft schob sich an all den Jahren funktionaler Fertiggerichte und Mikrowellenpizza vorbei und setzte sich mitten in sein Bewusstsein.

„Was… ist das?“, fragte er, ohne darüber nachzudenken.

Der Mann blinzelte. „Das Essen?“

„Ja“, sagte Sławek. „Es riecht… nach meiner Kindheit.“

Der Mann lächelte zum ersten Mal ein bisschen. „Pfannkuchen. Gefüllt mit Sauerkraut, Pilzen, Zwiebeln, Pflaumen… und Gewürzen, die ich jedes Jahr neu vergesse, bis ich sie wieder in der Hand habe. Ein Rezept von meinen Großeltern. Sie kamen aus Schlesien und Polen.“

Sławek nickte langsam. Natürlich. Genau das.

„Hier“, sagte er abrupt und hielt ihm das Paket hin. „Es ist für Anne Kowalski. Falsch bei mir abgegeben worden.“

„Ich bin Marc“, sagte der Mann und nahm das Paket. „Das ist wirklich nett von dir. Normalerweise schicken die das zurück ins Zentrum. Und heute… na ja, heute ist das alles schwierig. Frohe Weihnachten.“

„Ja. Frohe Weihnachten“, erwiderte Sławek, halbherzig. Er hasste diesen Satz, weil er so viel voraussetzte. Dass man feierte. Dass es etwas zu wünschen gab.

Er drehte sich um und ging die Treppe hinunter. Hinter ihm schloss sich leise die Tür.

Im Eingangsbereich blieb er abrupt stehen.

Auf der grauen Steinplatte vor der Haustür lag ein Paket, das vorher nicht dort gewesen war. Er hätte es sehen müssen, als er hereingekommen war. Es lag direkt neben der Fußmatte, ordentlich ausgerichtet, als hätte es dort schon immer gelegen.

Absender: wieder irgendein Logistikzentrum. Empfänger: Marc und Anne Kowalski, S 4.

„Wie…?“, murmelte er.

Vielleicht war der Bote in den zwei, drei Minuten gekommen, in denen er oben gewesen war. Vielleicht war das Paket auch schon dagewesen und sein Gehirn hatte es herausgefiltert wie einen irrelevanten Pixel.

Er hob es auf. Es fühlte sich schwerer an als die Babyflaschen.

Wenn ich jetzt einfach gehe, dachte er, liegt es hier bis morgen früh. Oder bis jemand es mitnimmt.

Er sah zur Treppe hoch. Alles war still. Über ihm, in Höhe des zweiten Stocks, brannte ein Lichtstreifen unter einer Tür.

Ich kann es einfach abstellen und klingeln und wieder verschwinden, dachte er. Keine Konversation, kein…

Er stieg die Treppe wieder hinauf, das zweite Paket im Arm. Vor der Wohnungstür der Kowalskis blieb er stehen. Er zögerte, dann drückte er die Klingel, stellte das Paket ab und drehte sich schon um, um leise zu verschwinden.

Er hatte gerade den ersten Schritt gemacht, als hinter ihm die Tür ruckartig geöffnet wurde.

„Hey! Higgins!“, rief Marc. „Oder wie auch immer du heißt. Warte!“

Sławek blieb stehen. Er drehte sich langsam um.

Marc stand im Türrahmen, barfuß, mit dem ersten Paket noch auf dem Wohnzimmertisch sichtbar im Hintergrund. Aus der Wohnung drang weinerliches Schreien, dann das Schlagen einer Tür, dann wieder Stille. Die Luft war aufgeladen.

„Ich… wollte nicht stören“, sagte Sławek. „Ich habe nur noch ein Paket für euch nach oben gebracht. Es lag unten.“

Marc sah ihn an, als würde er eine Entscheidung treffen, die über mehr als Pfannkuchen entschied.

„Ich weiß nicht mehr, wie du heißt“, sagte er schließlich. „Aber ich brauche deine Hilfe.“

Sławek hätte „nein“ sagen können. Er hätte sagen können, dass sein CUDA‑Treiber abgestürzt war, dass er ein Netz neu trainieren musste, dass Systeme zusammenbrechen, wenn man sie allein lässt. All das wäre nicht einmal gelogen gewesen.

Aber einem Hilferuf hatte er noch nie widerstehen können. Er war aufgewachsen in der stillen Zufriedenheit, Dinge zu reparieren: defekte Router, kaputte Handys, nicht bootende Rechner. Jedes „Es geht wieder“ gab ihm mehr als jede Umarmung. Er fühlte sich nur dann wirklich gebraucht, wenn irgendwo ein Fehler war.

„Okay“, sagte er. „Was… genau?“

„Komm rein“, sagte Marc und machte Platz.

Die Wohnung war klein, aber warm. Der Geruch aus der Küche war noch intensiver. Auf dem Herd brutzelten Pfannkuchen in einer Pfanne, im Backofen gratinierten einige bereits unter einer dünnen Käseschicht. Auf dem Esstisch standen drei Teller, drei Gläser, drei Gabeln, drei Messer. Drei.

Das fiel Sławek sofort auf. Drei war eine mathematisch harmlose, aber symbolisch laute Zahl.

„Du musst nur auf das Essen aufpassen“, sagte Marc hastig. „Die Pfannkuchen wenden, wenn sie braun werden, die zweite Ladung in den Ofen schieben, sowas. Ich muss zu Anne. Sie… braucht mich.“

„Ich bin kein besonders guter Koch“, sagte Sławek. „Eher im Gegenteil.“

„Du musst nur verhindern, dass alles anbrennt“, sagte Marc. „Mit deinem… Informatikerhirn schafft du das schon.“

Er verschwand im Bad, dessen Tür er halb hinter sich zuzog. Durch das dünne Holz hörte man erst leises Reden, dann wieder Weinen, dann Wasser, das lief.

Sławek stand einen Moment unschlüssig in der Küche, als hätte jemand ihn in ein fremdes Betriebssystem geworfen. Dann griff er zum Pfannenwender.

Bräunungsgrad von Pfannkuchen überwachen, dachte er. Problemraum überschaubar.

Er hob vorsichtig den ersten Pfannkuchen an. Darunter war er goldbraun. Er wendete ihn, wiederholte den Vorgang bei den anderen. Der Rhythmus beruhigte ihn. Für einen kulinarisch minderbemittelten Koch fühlte sich jede Sekunde wie ein kleiner Äon an, aber es war eine beherrschbare Ewigkeit.

Die Wohnzimmertür stand offen. Er sah den Tisch mit den drei Gedecken. Es reizte ihn, dort hinzugehen und genauer hinzusehen, aber schon der Gedanke, in etwas so Intimes wie eine Weihnachtstafel aus Versehen hineinzutreten, ließ ihn in der Küchentür stehen bleiben.

Er hörte Marc im Bad reden, dann wieder Stille. Als Marc schließlich herauskam, waren die Pfannkuchen fertig und stapelten sich auf einem Teller im Ofen.

Marc hatte rote, leicht geschwollene Augen. Seine Nase war verschnupft, aber er versuchte, normal zu atmen.

„Alles okay?“, fragte Sławek, obwohl „alles okay“ offensichtlich eine falsche Kategorie war.

„Nein“, sagte Marc schlicht. „Aber das Essen ist es, oder?“

„Ich glaube ja“, sagte Sławek. „Was soll ich mit den Pfannkuchen im Ofen machen?“

Marc sah in den Ofen, nickte zufrieden, schaltete ihn aus.

„Perfekt“, sagte er. „Setz dich doch schon mal. Wenn du magst.“

Sławek sah wieder auf den Tisch. Drei Teller. Er konnte rechnen. Zwei Menschen in der Wohnung, drei Gedecke.

Er nahm all seinen Mut zusammen. „Warum sind es drei Teller?“, fragte er. „Ihr seid doch nur zu zweit.“

Marc atmete tief ein. Es war die Art Atemzug, die man macht, bevor man eine Geschichte beginnt, die man schon oft erzählt hat und trotzdem nicht erzählen will.

„Meine Großeltern“, begann er, „haben immer so gedeckt. Sie kamen aus Schlesien und Polen. Dort stellt man zu Weihnachten immer ein Gedeck mehr auf den Tisch als Menschen im Haus sind. Für den Gast, der unerwartet kommt. Oder für jemanden, der nicht mehr da ist. Manche sagen, es ist auch für Gott. Man kann es deuten, wie man will.“

Er strich unbewusst eine unsichtbare Falte aus der Tischdecke.

„Wir machen das jedes Jahr so. Ein Teller mehr. Einfach, weil es sich falsch anfühlt, es nicht zu tun.“

Sławek sah auf den dritten Teller. In seinem Kopf klickte etwas. Heute war er der Zufallsgast. Eine Funktion im System, die nie aufgerufen worden war und plötzlich lief.

„Und heute“, sagte Marc leise, „ist der Teller… für mehrere Leute gleichzeitig, glaube ich.“

Sławek hätte sagen können, dass er gleich wieder gehen müsste, wegen des Rechners, wegen des Jobs, wegen irgendeines fernen Projekts. Stattdessen hörte er sich sagen:

„Soll ich bleiben?“

Es war die ehrlichste Frage, die er seit Langem gestellt hatte. Sie wurde ihm fast unheimlich.

Marc sah ihn an, überrascht und zugleich erleichtert.

„Ich würde mich freuen“, sagte er. „Anne… braucht gerade Ruhe. Aber ich… kann das hier nicht allein.“

Eine halbe Sekunde lang wollte Sławek reflexhaft widersprechen, sich auf seine Arbeit zurückziehen, auf seine gewohnte Rolle als Einzelgänger. Doch er blieb sitzen.

Vielleicht, dachte er, weil es hier nach Oma riecht.

Marc ging kurz ins Schlafzimmer. Gedämpfte Stimmen, dann wieder Stille. Als er zurückkam, waren seine Augen wieder klarer.

„Anne kommt gleich“, sagte er. „Wenn sie möchte.“

Sie setzten sich an den Tisch. Marc servierte die Pfannkuchen. Der Duft war jetzt direkt vor Sławeks Nase. Er hatte das Gefühl, das Zwölfer‑Menü seiner Kindheit in einem einzigen Gericht konzentriert vor sich zu haben.

„Weißt du“, sagte Marc, während er sich hinsetzte, „die Babyflaschen, die du gebracht hast… die haben wir vor ein paar Wochen bestellt.“

Sławek legte die Gabel, die er gerade in die Hand genommen hatte, wieder hin.

„Wir wollten ein Kind“, fuhr Marc fort. „Es sollte kurz nach Weihnachten kommen. Alles lief gut. Alle Tests. Alle Untersuchungen. Und dann… kam es tot zur Welt. Keiner weiß, warum.“

Er sprach sachlich, beinahe nüchtern. Nur an einer Stelle seiner Stimme hörte man ein leichtes Brechen, als hätte jemand eine Saite zu fest gespannt.

„Seitdem ist es… schwer. Für uns beide. Noch schwerer für Anne. Sie sitzt manchmal eine Stunde lang im Bad und weint, und danach geht es ihr wieder ein bisschen besser. Ich koche, weil meine Großeltern immer gekocht haben, wenn es schlimm war. Und heute…“ Er zeigte mit einer kleinen Geste auf das Paket mit den Flaschen auf dem Sideboard. „…heute kommt das hier an. An Heiligabend.“

Sławek suchte nach etwas zu sagen. In seiner Welt löste man Probleme, indem man sie in kleinere Teile zerlegte, Kantenfälle analysierte, Bugs lokalisierte. Hier gab es keinen Stacktrace, keine Fehlermeldung, kein Ticket.

„Mann“, brachte er schließlich heraus. „Das tut mir aber leid für euch.“

Es war kein besonders tiefes oder geistreiches Statement. Aber es war ehrlich, und Marc schien genau das zu hören.

„Danke“, sagte er.

Die Badtür öffnete sich leise. Anne kam heraus. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt ein schlichtes Kleid. Ihr Gesicht war dezent geschminkt, als hätte sie versucht, die letzte Stunde zu überschreiben – nicht zu verleugnen, nur zu kaschieren.

Marc stand auf. „Anne, das ist… äh… Higgins. Er hat uns das Paket gebracht. Beide Pakete, eigentlich.“

„Sławek“, korrigierte er automatisch. „Also… Higgins. Wie ihr wollt.“

Anne nickte. Ihre Augen waren gerötet, aber wach.

„Danke“, sagte sie leise. „Dass du das Paket gebracht hast. Sonst… keine Ahnung, wann wir es bekommen hätten.“

„Ich… wusste nicht, dass es… so ein Paket ist“, sagte Sławek unbeholfen. „Sonst hätte ich vielleicht…“

„Es ist nicht deine Schuld“, unterbrach sie ihn. „Es ist… vieles nicht deine Schuld.“

Sie setzte sich, berührte den dritten Teller, zog ihn ein kleines Stück zu sich heran und schob ihn dann wieder in die Mitte.

„Iss ruhig“, sagte Marc zu Sławek. „Sonst wird das kalt.“

Sie begannen zu essen. Der Pfannkuchen schmeckte so, wie er roch. Nach etwas, das schon lange da gewesen war, bevor er es benennen konnte. Nach seiner Oma in einem Dorf hinter der polnischen Grenze, nach engen Küchen und beschlagenen Fenstern, nach Stimmen, die durcheinander redeten.

„Du bist Pole?“, fragte Anne nach einer Weile.

„Meine Eltern sind Polen“, sagte er. „Ich bin… irgendwas dazwischen. Sie sind um die Jahrtausendwende hierhergezogen. Bessere Arbeit, bessere Chancen. Sie wollten irgendwann zurück, aber dann blieben sie doch. Klassische Geschichte.“

„Und du?“, fragte Marc. „Du hast keinen polnischen Akzent.“

„Ich bin hier aufgewachsen“, sagte Sławek. „Zuhause Polnisch, draußen Deutsch. In der Uni Englisch. Und im Internet sowieso. Deswegen nennen mich die Leute meistens Higgins. Das versteht jede Maschine beim ersten Mal.“

Marc grinste schwach. „Mein Opa hätte gesagt, Namen sind wichtig.“

„In dieser Stadt nicht“, erwiderte Sławek. „Hier zählen nur Koordinaten.“

Anne lächelte schmal. „Und trotzdem sitzt du an unserem Tisch.“

Eine Weile aßen sie schweigend. Dann sagte Marc:

„Feierst du sonst Weihnachten?“

„Früher“, sagte Sławek. „Mit meinen Eltern. Polnisch. Zwölf Gerichte, keiner darf Fleisch essen, bis der erste Stern am Himmel steht, so Zeug. Weihnachtsgeschichte, Oblaten teilen, sich gegenseitig Dinge wünschen, die nie genau so eintreten, aber manchmal überraschenderweise doch. Später… war mir das alles zu viel. Zu viele Emotionen, zu viel Religion, zu viel Erwartung.“

Er hielt inne. „Seit ein paar Jahren… ignoriere ich es einfach.“

Anne sah ihn über den Tisch hinweg an. „Und heute?“

„Heute bin ich hier“, sagte er. „Wegen eines Logistikfehlers.“

Marc lachte kurz, trocken.

„Ein Softwarebug im Logistikzentrum“, sagte er. „Vertauschte Rechnungen, falsche Etiketten. Und zack, sitzt ein Fremder an unserem Weichnachtstisch. Meine Großeltern hätten gesagt, Gott hat seine Hand im Spiel. Ich würde sagen, die Datentypen waren nicht sauber geprüft.“

„Man könnte auch beides sagen“, meinte Anne.

Es entstand eine kleine, nicht unangenehme Stille.

„Lest ihr… normalerweise die Weihnachtsgeschichte?“, fragte Sławek zögernd. „Also, aus der Bibel?“

Er wusste, dass das ein Minenfeld sein konnte. Die Geschichte handelte schließlich von einer Geburt. Von einem Kind. Von dem, was ihnen fehlte.

Marc schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Meine Großeltern schon. Wir… sind eher so Kultur‑Christen. Baum, Essen, Geschenke, aber ohne Programm.“

„Warum fragst du?“, fragte Anne.

„Weil… bei uns fing Heiligabend immer damit an“, sagte Sławek. „Bevor wir gegessen haben. Jemand hat aus dem Lukas‑Evangelium vorgelesen. Über Maria und Josef, Bethlehem, Stall, Engel, Hirten. Ich kenne die Geschichte auswendig. Trotzdem… war es jedes Mal irgendwie neu. Auch wenn ich nicht gläubig bin.“

Er sah kurz zu Anne, dann wieder auf seinen Teller. „Ich dachte nur… vielleicht ist das heute nicht so eine gute Idee.“

Anne sah auf den dritten Teller, dann auf Marc, dann wieder auf Sławek.

„Vielleicht doch“, sagte sie.

Marc runzelte die Stirn. „Bist du sicher?“

„Wenn ich noch eine Stunde im Bad sitze, bringt das auch nichts“, sagte sie leise. „Vielleicht hilft es, eine Geschichte zu hören, in der… ein Kind vorkommt, das es gibt.“

Marc griff zögernd nach seinem Smartphone. „Wie war das nochmal? Lukas…?“

„Lukas 2“, sagte Sławek automatisch.

Marc tippte. „Da. ‚Die Geburt Jesu‘.“

Er reichte das Handy Anne. Sie atmete tief ein und begann zu lesen. Ihre Stimme war anfangs etwas brüchig, wurde aber zunehmend klar.

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging…“

Sławek kannte jeden Satz. Trotzdem hörte er zu, als würde er sie zum ersten Mal hören. Maria, hochschwanger. Kein Platz in der Herberge. Ein Stall. Eine Krippe. Ein neugeborenes Kind, das zugleich alles und nichts war. Hirten, die sich fürchteten, Engel, die „Fürchtet euch nicht“ sagten.

Anne stockte, als sie zu der Stelle kam: „…denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr…“

Sie legte das Handy kurz ab, wischte sich über die Augen, lächelte dann schwach und las weiter. Als sie fertig war, legte sie das Telefon auf den Tisch.

Es war still. Sogar das Summen des Kühlschranks schien leiser geworden zu sein.

Anne atmete noch einmal tief durch. „Das tut weh“, sagte sie. „Aber anders als vorher.“

Marc legte seine Hand auf ihre.

„Willst du was essen?“, fragte er.

Sie nickte. „Gib mir zwei Pfannkuchen. Sonst hältst du mich wieder für krank.“

Marc lachte leise und legte ihr zwei Pfannkuchen auf den Teller. Sławek sah, wie sie den ersten Bissen nahm, vorsichtig, als wäre das Essen ein Test. Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig.

Sie redeten weiter. Über Kleinigkeiten zuerst. Über die Stadt und ihr Straßensystem, über die Idee, dass Primzahlen wichtiger waren als Heilige. Über Sławeks Arbeit – soweit er sie in menschlichen Begriffen ausdrücken konnte.

„Also erklär mir das nochmal“, sagte Marc. „Du bringst Maschinen bei, Gesichter zu lesen?“

„Vereinfacht gesagt, ja“, antwortete Sławek. „Sie sollen Emotionen erkennen. Freude, Trauer, Angst, Wut.“

„Und bei dir selbst?“, fragte Anne.

„Bei mir selbst funktioniert der Algorithmus nicht so gut“, sagte er.

Sie lachten. Es war kein lautes, freies Lachen, aber es war da.

Sie merkten nicht, wie die Stunden vergingen. Draußen wurde es dunkel, drinnen brannten irgendwann nur noch Kerzen. Das dritte Gedeck blieb benutztlos und doch nicht ungenutzt. Es war da, hatte seinen Zweck erfüllt.

Als Sławek schließlich auf die Uhr sah, war es weit später, als er gedacht hatte.

„Ich… sollte gehen“, sagte er. „Mein Rechner…“

Er brach ab. Zum ersten Mal an diesem Abend fühlte sich der Hinweis auf einen Computer albern an.

„Danke, dass du geblieben bist“, sagte Marc. „Ehrlich. Ohne dich wäre der Abend… anders geworden.“

Anne nickte. „Vielleicht wäre er gar nicht geworden.“

„Frohe Weihnachten“, sagte Sławek diesmal ohne Zögern.

„Frohe Weihnachten, Higgins“, sagte Marc. „Oder Sławek.“

„Frohe Weihnachten“, sagte Anne leise.

Als er auf die S 4 hinaustrat, war die Luft klarer geworden. Ein paar vereinzelte Sterne waren zwischen den Wohnblöcken zu sehen. Er ging die S 4 entlang bis zur 7, dann die 7 zur S 49 hinunter, wie auf einer unsichtbaren Gleichung. Der Weg, den er in einer Viertelstunde zurücklegte, reichte für eine ganze Anzahl von Gedanken.

Warum ist Weihnachten nicht mehr mein Fest?, fragte er sich.

Die Antwort war nicht technisch. Es war nicht, weil er Religion unlogisch fand. Nicht, weil er das Konsumtheater verachtete. Am Ende war es, weil alles zu nah war. Zu viel Nähe, zu viel Erwartung, zu viel „Wie geht es dir wirklich?“. Dinge, auf die es keine sauberen, binären Antworten gab.

Aber als er an seine Oma dachte, an ihre Küche, an die überfüllten Tische, an das Lachen, das früher einmal selbstverständlich gewesen war, merkte er, dass es da etwas gab, das fehlte. Nicht Gott. Nicht einmal unbedingt die Rituale. Sondern die schlichte Tatsache, dass Menschen beieinander saßen, ohne dass einer den anderen abschalten konnte.

Zu Hause angekommen, sah er seinen Laptop auf dem Tisch liegen. Das Gerät wirkte plötzlich klein, fast harmlos. Er klappte es nicht auf.

Stattdessen nahm er sein Telefon in die Hand, zögerte lange, suchte dann den Kontakt „Mama + Papa“ heraus, den er seit Jahren nicht gewählt hatte.

Er drückte auf „Anrufen“.

Es klingelte.

„Halo?“, meldete sich seine Mutter, noch halb im Polnischen, halb im Deutschen. Dann, nach einem kurzen Zögern: „Sławek?“

Er musste schlucken. „Frohe Weihnachten, Mama“, sagte er.

Sie fing an zu reden, schnell, überrascht, erfreut, verwundert. Sein Vater kam dazu. Es war nicht wie früher, es konnten nicht einfach Jahre ausgelassen werden, als wären sie nie gewesen. Aber es war ein Anfang. Ein Datenstrom, den er wieder freigeschaltet hatte.

Fast genau ein Jahr später fand Sławek in seinem Briefkasten etwas, das er für historisch hielt: einen Brief. Echte Post, auf Papier, mit einer handgeschriebenen Adresse. Er bekam sonst nur noch E‑Mails und Benachrichtigungen, niemals Umschläge.

Absender: Marc und Anne Kowalski.

Die Erinnerung an den vergangenen Heiligabend kehrte zurück wie ein gespeicherter Zustand, der wieder geladen wurde. Er riss den Umschlag auf.

Innen lag eine einfache Klappkarte. Auf der Vorderseite stand: „Frohe Weihnachten“. Nichts Goldglänzendes, kein Kitsch. Klare Buchstaben.

Auf der Innenseite stand mit blauer Tinte nur eine kurze Zeile:

„Jes 9,5“

Darunter hatten sie unterschrieben. Und daneben, sauber mit Fineliner gezeichnet, ein QR‑Code. Die Linien waren ein wenig zittrig, aber präzise genug.

Sławek setzte sich, zog sein Smartphone aus der Tasche und tippte den Code „Jes 9,5“ in die Suchzeile ein. Ein Bibelvers erschien.

Er las:

„Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt.
Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter;
man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.“

Ein Lächeln schob sich über sein Gesicht, wider Willen. Er wusste, was es bedeutete, ohne dass jemand es ihm erklärte.

Dann öffnete er die Kamera‑App und hielt sie über den QR‑Code. Der Scanner piepte. Eine Telefonnummer erschien.

Er drückte auf „Anrufen“.

„Ja?“, meldete sich eine müde, aber fröhliche Stimme. Im Hintergrund war ein leises, unregelmäßiges Weinen zu hören – das besondere Weinen eines neuen Menschen, der noch nicht wusste, wie laut er sein durfte.

„Hier ist Sławek“, sagte er. „Oder Higgins.“

„Higgins!“, rief Marc. „Du glaubst nicht, wie sehr wir uns gefreut haben, als wir deine Nummer wiedergefunden haben.“

„Der QR‑Code war beeindruckend“, sagte Sławek. „Handgezeichnet.“

Marc lachte. „Kreativer Umgang mit begrenzten Mitteln. Das kennst du doch.“

Dann wurde seine Stimme ernster, aber auf eine helle Art.

„Du erinnerst dich an letztes Weihnachten“, sagte er. „An… alles.“

„Ja“, sagte Sławek.

„Es wurde langsam besser“, fuhr Marc fort. „Nicht von heute auf morgen, aber Stück für Stück. Wir haben geredet, wir haben geschwiegen, wir haben gestritten. Und irgendwann, Ende Mai… hat der Arzt gesagt, dass wir wieder Eltern werden.“

Im Hintergrund verstummte das Weinen für einen Moment, dann begann es von neuem, empört, lebenshungrig.

„Dieses Mal“, sagte Marc, „ging alles gut. Alles. Ein Junge. Er ist inzwischen fast vier Monate alt. Und… wir sind müde. Und glücklich. Und müde.“

Sławek spürte, wie sich etwas in ihm entspannte, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass es noch angespannt war.

„Das freut mich für euch“, sagte er. „Wirklich.“

„Anne wollte unbedingt, dass wir dir schreiben“, sagte Marc. „Damit du weißt, dass… na ja, dass nicht jeder Fehler im System nur Schaden anrichtet.“

„Der Logistik‑Bug“, sagte Sławek.

„Ja“, sagte Marc. „Der übrigens inzwischen behoben ist. Hat man uns erzählt. Rechnungen und Etiketten werden jetzt nicht mehr vertauscht. Effizienz überall.“

„Natürlich“, sagte Sławek. „Die Welt darf keinen Fehler haben.“

„Aber dieser eine war… hilfreich“, sagte Marc.

Sławek sah aus dem Fenster. Es war wieder Heiligabend. Die Stadt lag noch immer gleichmäßig da, mit ihren nummerierten Ringen und Achsen, mit ihrer funktionalen Kälte. Und doch war sie nicht mehr ganz dieselbe wie vor einem Jahr.

„Willst du heute zu uns kommen?“, fragte Marc plötzlich. „Wir haben wieder für drei Personen gedeckt. Plus Hochstuhl.“

Sławek zögerte kurz. Nicht, weil er nicht wollte, sondern weil er bereits einen anderen Bruch mit seiner Routine geplant hatte.

„Danke“, sagte er. „Aber dieses Jahr… feiere ich wieder mit meinen Eltern. Ich nenne es inzwischen Familienfest. Das klingt harmloser.“

„Das ist gut“, sagte Marc. „Das ist sehr gut.“

„Vielleicht nächstes Jahr“, fügte Sławek hinzu. „Dann kann ich euren Fürst‑des‑Friedens‑Nachwuchs auch mal kennenlernen.“

„Abgemacht“, sagte Marc.

Sie verabschiedeten sich. Das Weinen im Hintergrund ging nahtlos in ein zufriedenes Glucksen über, als hätte jemand kurz die Parameter geändert.

Sławek legte auf und blieb einen Moment sitzen. Er dachte an ein Logistikzentrum irgendwo weit draußen, in dem ein anonymes Stück Software einmal für ein paar Wochen nicht getan hatte, was es sollte. Rechnungen waren verrutscht, Paketaufkleber vertauscht worden. Menschen hatten sich beschwert, Manager hatten Memos geschrieben, Entwickler hatten Patches ausgerollt.

Der Fehler war gefunden und behoben worden. Die Welt lief wieder ein Stück reibungsloser.

Aber in einer kleinen Wohnung an der S 4 hatte dieser Fehler etwas ausgelöst, das kein Algorithmus geplant hatte. Ein unerwarteter Gast war gekommen. Ein Essen war nicht angebrannt. Eine Geschichte war gelesen worden. Jemand hatte zum ersten Mal seit Langem wieder gegessen, geweint und gelächelt in einem einzigen Abend.

Und irgendwo zwischen einem abgestürzten CUDA‑Treiber und sechs falsch zugestellten Babyflaschen hatte Sławek – Higgins, Sohn polnischer Eltern, Bewohner einer nummerierten Stadt – entdeckt, dass es Dinge gab, die sich nicht debuggen, sondern nur teilen ließen.

Er zog seine Jacke an, nahm das Telefon und machte sich auf den Weg zur 2, dem inneren Ring, wo seine Eltern inzwischen wohnten. Die Luft war kalt, aber nicht unfreundlich. Über der Stadt standen ein paar Sterne, nicht viele, aber genug.

Auf der S 49 dachte er daran, dass die Stadt so gebaut war, dass niemand sich verlaufen musste, solange er rechnen konnte. Trotzdem war es ganz gut zu wissen, dass man gelegentlich irgendwo ankommen konnte, wo man nie hinwollte – und dort willkommen war.

Aus der Richtung der S 4 hätte man, wenn man sehr genau hingehört hätte, leises Babygeschrei hören können. Es war das unsauberste, unregelmäßigste, ineffizienteste Geräusch der Welt.

Und zugleich das verlässlichste Zeichen dafür, dass etwas in Ordnung geraten war.


QWEN

Weihnachten in der Stadt der Zahlen
von Higgins (eigentlich: Sławomir)

„Der CUDA-Treiber ist wieder abgestürzt. Warum zum Teufel kann NVIDIA nicht mal einen Treiber schreiben, der länger hält als ein Weihnachtsbaum in der Sonne?“

Sławek starrte auf den schwarzen Bildschirm seines Laptops. Der Kernel-Panic-Log war noch im Terminal zu sehen – eine endlose Kaskade aus Speicheradressen, Segmentierungsfehlern und dem immer wiederkehrenden Hinweis: nvidia-uvm: GPU fault on device 0. Er seufzte. Es war Heiligabend, 14:17 Uhr. Draußen lag Schnee, aber nicht der romantische, flauschige, sondern der graue, matschige, der sich an den Rändern der Gehwege sammelte wie ein vergessener Bug in einem schlecht gewarteten System.

Gerade als er überlegte, ob er den Kernel neu kompilieren oder doch lieber auf den proprietären Treiber verzichten sollte, klingelte es an der Tür.

Ein Paketbote.

„Unterschrift, bitte.“

Sławek nahm das Paket entgegen, ohne zu fragen, was es war. Er bestellte selten etwas – schon gar nicht an Weihnachten. Die Welt war voller unnötiger Objekte, und er bevorzugte die Welt hinter dem Bildschirm, wo alles logisch war, wo man Fehler isolieren, debuggen und beheben konnte.

Zurück am Schreibtisch, zögerte er. Sollte er zuerst den Absturz analysieren – vielleicht war es ein Speicherleck in seinem selbstgeschriebenen Raytracer – oder das Paket öffnen? Er blickte auf den Monitor. Die Logs sagten ihm nichts Neues. Kein Hinweis auf Hardwareversagen, kein Hinweis auf falsche Bibliotheksversionen. Nur: GPU fault.

„Zu lange“, murmelte er. „Das dauert mir zu lange.“

Er klappte den Laptop zu.

Das Paket war grau, kantig, mit einem Aufkleber eines Logistikzentrums, das er noch nie gehört hatte. Kein Absendername. Nur eine kryptische Nummer: LZ-7349-2²·3·5.

Er schnitt das Klebeband auf.

Innen: sechs Babyflaschen. Steril verpackt.

„Was zum…?“

Er hob die Flaschen heraus. Darunter lag eine Rechnung. Empfänger: Anne Weber, S 4 / 2.

„Ich hab keine Kinder. Ich hab nicht mal einen Ficus.“

Er rannte zur Tür, doch der Bote war bereits weg. Die Post lag am anderen Ende der Stadt – oder zumindest so weit entfernt wie die S 4. Und wenn er schon unterwegs war…

Er zog seine Funktionsjacke an – jene mit den zwölf Taschen, dem winddichten Membran und der Aufschrift Arctic Expedition Grade. Übertrieben, ja. Aber in dieser Stadt war Übertriebenheit Teil des Designs.

Die Stadt war ein Meisterwerk rationaler Planung. Keine Straßennamen. Keine historischen Anspielungen. Keine politischen Kompromisse. Nur Zahlen. Primzahlen als Ringe um das Zentrum: 2, 3, 5, 7, 11… Und von ihnen gingen die Potenzstraßen ab: S 4, S 8, S 16… N 9, N 27…

Sławek lebte in S 49 – also 7². Um zur S 4 zu gelangen, musste er zur Ringstraße 7, dann Richtung Zentrum bis zur 2, dann abbiegen auf S 4 = 2².

Er mochte diese Stadt. Alles war berechenbar. Niemand fragte nach deinem Namen. Niemand fragte nach deinen Gefühlen.

Doch als er durch die kubistischen Häuserzeilen ging – alle aus grauem Beton, mit kahlen Kugelbäumen und Granitplatten als Gehweg – spürte er etwas, das er lange verdrängt hatte: eine Leere. Kein Bug, den man beheben konnte. Kein Logfile, das half.

Vor dem Haus S 4 / 2 blieb er stehen. Ein Mehrparteienhaus wie alle anderen. Ein Vorgarten, der keiner war. Nur ein paar Quadratmeter Moos und ein Baum, der aussah, als sei er per CAD-Modell generiert worden.

Er drückte die Klingel.

Ein Knacken im Lautsprecher.

„Ja?“

„Äh… Higgins hier. Ich hab ein Paket bekommen, das an Sie adressiert ist. Babyflaschen. Ich glaube, da ist ein Fehler passiert.“

Stille. Dann: „Kommen Sie rauf. Zweiter Stock.“

Die Tür summte.

Im zweiten Stock öffnete ein Mann Mitte zwanzig – Marc. Hinter ihm: gedämpftes Licht, ein Geruch, der Sławek mitten ins Herz traf.

Sauerkraut. Pilze. Zwiebeln. Pflaumen. Gewürze, die er nicht benennen konnte, die aber in seiner Erinnerung sofort ein Bild heraufbeschworen: seine Oma, eine Schürze umgebunden, am Herd in Breslau.

„Was ist das für ein Geruch?“, fragte er, fast unhöflich direkt.

Marc lächelte müde. „Schlesische Weihnachtspfannkuchen. Tradition.“

Sławek nickte. „Ah. Pierogi ruskie, aber gebraten.“

„So ähnlich.“

Er wollte gehen. Wollte zurück zu seinem Rechner, zu seinem Problem, zu seiner Welt der klaren Zustände. Doch bevor er sich verabschieden konnte, fragte Marc: „Bleiben Sie doch kurz. Ich hol Ihnen einen Kaffee.“

Sławek zögerte. „Ich… hab nicht viel Zeit.“

Doch dann sah er die Frau im Hintergrund. Anne. Sie saß am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt. Ihre Schultern zitterten leicht.

Er blieb.

Kaum war er wieder im Treppenhaus, sah er ein zweites Paket. Diesmal adressiert an Marc & Anne Weber.

„Verdammt.“

War der Bote nochmal da gewesen? Hatte er das Paket übersehen? Er nahm es und stieg erneut hinauf.

Diesmal hörte er Weinen hinter der Tür. Und Türen, die zugeschlagen wurden.

Er klingelte.

Kaum hatte er sich umgedreht, rief Marc: „Ich weiß nicht mehr, wie Sie heißen… aber ich brauche Ihre Hilfe.“

Sławek erstarrte.

Hilfe war etwas, das er geben konnte. Code reparieren. Systeme stabilisieren. Aber Menschen?

Doch Marc sah ihn an wie jemand, der gerade einen Kernel-Panic hat – und Sławek war der einzige, der den Stack Trace lesen konnte.

Er trat ein.

In der Küche stand ein Topf mit Pfannkuchen. Der Tisch war für drei gedeckt.

„Warum drei?“, fragte Sławek.

Marc seufzte. „In unserer Familie… man deckt immer einen Teller mehr. Für den Gast, der unerwartet kommt. Oder für die, die nicht mehr da sind.“

Sławek nickte langsam. Das kannte er.

Marc verschwand im Bad. Kam nach zehn Minuten zurück – mit roten Augen.

„Unser Kind…“, begann er. „Es sollte nach Weihnachten kommen. Aber… es kam tot zur Welt.“

Sławek suchte nach Worten. Fand nur: „Mann. Das tut mir leid.“

Mehr ging nicht. Emotionen waren wie Legacy-Code: unleserlich, ungetestet, gefährlich.

Doch dann kam Anne aus dem Schlafzimmer. Frisch geschminkt. Festlich gekleidet. Als wollte sie das Schicksal täuschen.

Sie setzte sich. Sagte nichts.

Bis Marc fragte: „Haben Sie Weihnachten heute Abend allein?“

Sławek zögerte. „Ja.“

„Und Ihre Familie?“

„In Polen. Ich… zieh das Alleinsein vor.“

„Warum?“

„Weil Menschen… kompliziert sind. Und Weihnachten… ist voller Emotionen. Und Emotionen sind schwer zu debuggen.“

Marc lachte leise. Anne lächelte zum ersten Mal.

Irgendwann fragte sie: „Wie feiert man Weihnachten bei Ihnen?“

Sławek zögerte. Die Weihnachtsgeschichte… die Geburt… das war gefährlich.

Doch Marc suchte bereits auf seinem Tablet nach Lukas 2.

Sie lasen gemeinsam.

Als sie bei „…und sie gebar ihren ersten Sohn…“ ankamen, begann Anne zu weinen. Aber anders. Leise. Befreit.

„Ich hab Angst, dass ich nie wieder glücklich sein kann“, sagte sie.

Sławek schwieg. Dann: „Vielleicht… braucht man manchmal einen Bugfix. Und manchmal… braucht man einfach jemanden, der mitliest.“

Sie aßen.

Sławek dachte an seinen Rechner. An den Absturz. Aber seltsam – es war ihm egal.

Als er ging, sagte Marc: „Danke, Higgins.“

„Sławek“, korrigierte er. „Eigentlich Sławomir. Aber Higgins geht auch.“

Zu Hause angekommen, ließ er den Laptop geschlossen.

Stattdessen griff er zum Telefon.

Rief seine Eltern an.

„Wesołych Świąt“, sagte er leise.

Am anderen Ende hörte er seine Mutter weinen.

Ein Jahr später.

Ein Brief im Briefkasten.

Ungewöhnlich.

Absender: Marc & Anne Weber.

In der Karte: Jes 9,5.

Ein QR-Code.

Er scannte ihn. Eine Telefonnummer.

Marc meldete sich.

„Er heißt Sławomir“, sagte er lachend. „Nach dir.“

Sławek schwieg.

Dann: „Ist er… stabil?“

„Bis jetzt kein Absturz.“

Sławek lächelte.

In der Ferne hörte er Schreie.

Lebendige.

Unberechenbare.

Wunderbare.

Und zum ersten Mal seit Jahren dachte er: Vielleicht ist Weihnachten doch kein Bug. Vielleicht ist es ein Feature.


Grok

Ein unerwarteter Gast

Sławek starrte auf den Bildschirm seines Laptops, wo eine Fehlermeldung in kalter, weißer Schrift prangte: „CUDA-Treiber abgestürzt“. Er murmelte vor sich hin – nicht laut, aber mit der Intensität eines Menschen, der weiß, dass Maschinen ihn verstehen sollten. „Immer dasselbe an den falschen Tagen“, dachte er. „Als ob das System selbst wüsste, dass heute niemand Zeit für solche Störungen hat.“ Heiligabend. Früher Nachmittag. Die Stadt draußen lag in einer Stille, die nicht friedlich, sondern funktional war – wie alles hier.

Da klingelte es an der Tür.

Er zögerte. Der Cursor blinkte vorwurfsvoll. Doch das Klingeln wiederholte sich, beharrlich, aber nicht aufdringlich. Sławek klappte den Laptop zu – nicht aus Resignation, sondern aus einer plötzlichen, unerklärlichen Neugier – und öffnete.

Ein Postbote in grauer Uniform hielt ein Paket hoch. „Sławek… Higgins?“

„Ja“, sagte er automatisch. Higgins. Der Name, den er sich selbst gegeben hatte, weil er besser in Foren passte, besser in Mailinglisten, besser in einer Welt, die keine Akzente und keine Herkunftsgeschichten mochte.

Das Paket war leicht, fast zu leicht. Kein Absender, den er kannte. Er trug es in die Küche, stellte es auf den Tisch und starrte es an. „Wer schickt mir etwas an Heiligabend?“ dachte er. „Niemand. Ich habe nichts bestellt. Und niemand aus der Familie würde…“

Er schnitt den Karton auf.

Sechs Babyflaschen. Sauber verpackt, mit einer Rechnung darunter. Name: Anne Kowalski. Adresse: einige Straßen entfernt, in der gleichen logischen Zone der Stadt.

Ein Fehler. Offensichtlich.

Er blickte aus dem Fenster. Der Lieferwagen war bereits verschwunden. Zur Post gehen würde Stunden dauern – und die Zustellung nur verzögern. Die Adresse war nicht weit. In dieser Stadt, die von einem Informatiker entworfen worden war, war nichts wirklich weit, wenn man die Regeln verstand.

Die Straßen hatten keine Namen – Namen trugen immer eine Wertung, eine Geschichte, eine Parteilichkeit. Stattdessen Primzahlen als konzentrische Kreise um das Zentrum: 2, 3, 5, 7, 11… Und die radialen Achsen als Potenzen, gekennzeichnet mit N, S, O, W. Wer rechnen konnte, fand sich zurecht. Sławek konnte rechnen.

Er zog seine schwere Funktionsjacke an – die Art, die für minus vierzig Grad gemacht war, aber hier nur gegen die trockene Kälte half – und machte sich auf den Weg.

Die Häuserblocks waren kubistisch, funktional, grau mit wenigen Akzenten. Niedrige Kugelbäume warfen exakte Schatten auf die Granitwege. Keine überflüssige Verzierung. Alles diente einem Zweck.

Am Ziel angekommen, suchte er den Namen auf dem Klingelschild. Kowalski. Er drückte die Taste.

Ein Knacken. Dann eine Männerstimme: „Ja?“

„Entschuldigung. Hier spricht… Higgins. Ich habe ein Paket erhalten, das eigentlich für Sie bestimmt ist. Babyflaschen. Falsche Zustellung.“

Eine Pause. „Kommen Sie hoch. Zweiter Stock.“

Der Summer ertönte.

Oben öffnete ein junger Mann die Tür. Mitte zwanzig, müde Augen, aber freundlich. „Marc“, sagte er und streckte die Hand aus. „Komm rein.“

Im Hintergrund sah Sławek eine Frau auf dem Sofa sitzen, das Gesicht abgewandt. Und dann traf ihn ein Duft – schwer, warm, vertraut. Sauerkraut, Pilze, Pflaumen, Gewürze, die er seit Jahren nicht mehr gerochen hatte.

„Was… kochen Sie da?“ fragte er, bevor er sich bremsen konnte.

Marc lächelte schwach. „Pfannkuchen mit Füllung. Rezept meiner Großmutter. Schlesisch-polnisch. Gołąbki in Pfannkuchenform, sozusagen.“

Sławek nickte. „Danke für die Info. Und… frohe Weihnachten.“ Er reichte das Paket.

Marc nahm es entgegen. „Danke, dass Sie es gebracht haben.“

Sławek drehte sich um. Die Tür schloss sich hinter ihm.

Im Treppenhaus, auf dem Weg nach unten, blieb er stehen. Dort lag ein weiteres Paket. Adressiert an Marc und Anne Kowalski. Es war vorher nicht da gewesen. Er war sich sicher.

Er hob es auf. Schlechtes Gewissen. Sie würden es nicht bemerken, wenn es unten blieb.

Er stieg wieder hoch. Klingelte.

Aus der Wohnung drang leises Weinen. Ein Klappern. Dann Schritte.

Die Tür öffnete sich schnell. Marc sah ihn an – verzweifelt.

„Ich weiß nicht mehr, wie Sie heißen… aber ich brauche Hilfe.“

Sławek zögerte nur eine Sekunde. „Higgins. Sławek, eigentlich.“

„Komm rein.“

Marc führte ihn in die Küche. „Kannst du das Essen im Auge behalten? Ich… muss kurz…“ Er verschwand im Bad.

Sławek stand allein vor dem Herd. Er wusste nicht viel über Kochen, aber er wusste, wann etwas fertig war. Er rührte, wartete.

Als Marc zurückkam, waren seine Augen rot.

Das Essen war fertig. Der Tisch gedeckt – für drei Personen.

Sławek runzelte die Stirn. „Drei Gedecke?“

Marc setzte sich. „Tradition. Bei uns zu Hause immer ein Gedeck mehr. Für den unerwarteten Gast. Oder für die, die nicht mehr da sind.“

Er deutete auf den freien Stuhl. „Setz dich.“

Sławek wollte ablehnen. Der Rechner wartete. Der Treiber. Die Fehleranalyse. Aber der Duft. Die Erinnerung an seine Großmutter. Er setzte sich.

Marc erzählte leise. Von den Babyflaschen, die sie vor Wochen bestellt hatten. Von dem Kind, das kurz nach Weihnachten kommen sollte. Das nicht gekommen war. Tot. Von Anne, die seitdem zerbrechlich war wie Glas.

Sławek nickte. „Das… tut mir leid.“

Mehr fiel ihm nicht ein.

Später kam Anne dazu. Blass, aber gefasst. Geschminkt, als wollte sie die letzte Stunde ungeschehen machen.

Sie sprachen über das Paket. Über die Stadt. Über Herkunft. Sławek erzählte – zögernd – von seinen Eltern, von Polen, vom Wegziehen, vom Namen Higgins, weil Sławomir zu schwer auszusprechen war in einer Welt, die Einfachheit bevorzugte.

„Und Weihnachten?“ fragte Anne leise.

„Früher ja. Mit Oma. Oblaten. Wünsche. Die Geschichte aus dem Evangelium.“

Marc holte sein Telefon. „Lukas 2“, sagte er. Sie lasen gemeinsam.

Anne weinte. Aber diesmal anders. Nicht verzweifelt. Berührt.

Sie aß. Zwei Pfannkuchen. Wie immer, sagte Marc.

Die Stunden vergingen. Sławek bemerkte es kaum.

Als er ging, war es dunkel.

„Frohe Weihnachten“, sagte er an der Tür. Diesmal meinte er es.

Zu Hause ließ er den Laptop zugeklappt. Nahm das Telefon. Wählte die Nummer seiner Eltern. Seit Jahren nicht mehr getan.

„Frohe Weihnachten“, sagte er, als abgehoben wurde.

Ein Jahr später kam ein Brief. Papier. Selten.

Absender: Marc und Anne Kowalski.

Eine Karte. „Frohe Weihnachten“. Darin ein Bibelvers: Jesaja 9,5.

Und ein handgezeichneter QR-Code.

Sławek scannte ihn.

Eine Telefonnummer.

Er rief an.

Marcs Stimme, voller Freude: „Es hat geklappt. Ende Mai. Ein Sohn. Gesund.“

Eine Einladung zum Heiligabend.

Sławek lächelte. „Danke. Aber dieses Jahr… feiere ich bei meiner Familie.“

In der Stadt, deren Straßen nach Primzahlen und Potenzen geordnet waren, hatte ein kleiner Fehler im Logistiksystem etwas in Gang gesetzt, das kein Algorithmus vorhersehen konnte.

Ein unerwarteter Gast war gekommen.

Und geblieben war etwas, das größer war als Funktionalität.


Sonnet

Die Babyflaschen

Eine Weihnachtsgeschichte im Stile von George Orwell

Verdammter CUDA-Treiber, dachte Sławek und starrte auf den eingefrorenen Bildschirm seines Laptops. Die Fehlermeldung leuchtete ihm entgegen wie eine Verhöhnung: Driver crashed and failed to recover. Ausgerechnet heute, an Heiligabend, wenn niemand Support leistete und alle Foren tot waren.

Es klingelte an der Tür.

Sławek – der sich selbst lieber Higgins nannte, weil dieser Name in seinen Informatikkreisen einfacher auszusprechen war als sein polnischer Vorname – seufzte. Der Postbote. Ein graues Paket. Keine Absenderangabe außer einem anonymen Logistikzentrum.

„Danke“, murmelte er und nahm das Paket entgegen.

Die Tür fiel ins Schloss. Sławek stand im Flur, das Paket in der einen, den Blick auf dem Monitor in der anderen Hand – metaphorisch gesprochen. Erst das System reparieren oder das Paket öffnen? Er hatte nichts bestellt. Vielleicht ein Geschenk? Seine Eltern schickten ihm seit Jahren nichts mehr, seit er den Kontakt minimiert hatte. Freunde? Die meisten seiner Kontakte waren digital.

Er blickte noch einmal auf den Bildschirm. Die Analyse würde Stunden dauern. Verdammt. Er klappte das Laptop zu.

Das Paket war leicht. Er schnitt den grauen Karton auf. Sechs Babyflaschen. Durchsichtiges Plastik, Silikonaufsätze, in einer ordentlichen Reihe verpackt.

„Was zum…?“

Unter den Flaschen lag eine Rechnung. Anne Kowalski, Straße 2, Hausnummer 16, Wohnung 7.

Ein Fehler. Offensichtlich. Sławek lief zur Tür, riss sie auf – der Postbote war bereits weg. Sein Transporter verschwand gerade um die Ecke der Straße S 49.

Er überlegte. Die Post würde die Zustellung nur verzögern. Heiligabend. Vielleicht brauchte diese Anne Kowalski die Flaschen dringend. Ein Baby. Weihnachten. Er sah auf die Adresse. Straße 2, nicht weit von hier.

Persönliche Übergabe, entschied er. Schnell hin, schnell zurück, dann den Rechner reparieren.

Die Stadt, in der Sławek lebte, war von einem Informatiker entworfen worden. Kein Name würde jemals eine Straße zieren – Namen waren politisch, ideologisch belastet. Stattdessen: Primzahlen, konzentrisch um das Zentrum. Die Straßen 2, 3, 5, 7, 11 bildeten Ringe. Die Potenzen – 4, 8, 16 oder 9, 27 – liefen radial nach außen: S für Süd, N für Nord, O für Ost, W für West.

Navigation? Überflüssig für jeden, der multiplizieren konnte.

Sławek zog seine Funktionsjacke an – ein Modell, das eher für Polarexpeditionen gedacht war – und machte sich auf den Weg. Von S 49 zur 7, dann entlang der 7 bis zur S 4, die von der 2 abging. Simpel.

Die Straßen waren funktionalistisch, kubistisch, grau. Wenig Farbe, keine Verzierungen. Die Gebäude wirkten wie aus einem Baukasten: effizient, identisch, austauschbar. Niedrige Kugelbäume säumten die mit grauem Granit gepflasterten Wege. Alles war auf Funktion reduziert.

Genau deshalb bin ich hierher gezogen, dachte Sławek. Keine unnötigen Emotionen. Nur Vernunft.

Er erreichte das Mehrparteienhaus. Nummer 16. Ein Pseudo-Vorgarten, die üblichen Kugelbäume. Er drückte die Klingel bei „Kowalski“.

Ein Knacken. Eine männliche Stimme.

„Ja?“

„Äh, hallo. Hier ist… ich heiße Higgins. Ich habe ein Paket bekommen, das eigentlich für Anne Kowalski bestimmt ist. Babyflaschen.“

Eine Pause. Dann: „Babyflaschen? Moment. Kommen Sie hoch. Zweiter Stock.“

Der Türsummer ertönte. Sławek drückte die Tür auf und stieg die Treppen hinauf.

Im zweiten Stock öffnete ein Mann um die dreißig die Tür. Dunkle Haare, müde Augen, ein gezwungenes Lächeln.

„Ich bin Marc. Danke, dass Sie hergekommen sind.“

Sławek reichte ihm das Paket. Im Hintergrund sah er eine Frau – Anne, vermutete er – die auf dem Sofa saß. Sie sah blass aus, ihre Augen waren rot.

Doch dann traf ihn etwas anderes: ein Geruch. Ein Duft, der aus der Wohnung strömte. Pilze, Sauerkraut, Pflaumen. Gewürze, die er seit Jahren nicht mehr gerochen hatte.

„Was… was kochen Sie da?“, fragte Sławek, direkter als beabsichtigt.

Marc lächelte schwach. „Pfannkuchen. Gefüllt mit Sauerkraut, Pilzen, Zwiebeln, Pflaumen. Schlesische Tradition. Meine Großeltern haben das immer gemacht.“

Sławek nickte langsam. Seine Oma hatte das Gleiche gekocht. Jedes Jahr. Das Essen seiner Kindheit.

„Danke“, sagte er schnell. „Frohe Weihnachten.“

Er drehte sich um und ging die Treppe hinunter. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.

Im Eingangsbereich blieb Sławek stehen.

Ein Paket. Es lag direkt neben der Haustür. Adressiert an Marc und Anne Kowalski.

Das war vorher nicht da.

Oder doch? War der Postbote gerade hier gewesen, während er oben mit Marc gesprochen hatte? Er war sich sicher, dass der Flur leer gewesen war, als er hochgegangen war.

Sławek seufzte. Schlechtes Gewissen. Die beiden würden nicht wissen, dass ein Paket für sie da war. Er nahm es in die Hand und stieg erneut die Treppen hoch.

Bevor er klingeln konnte, hörte er es: Weinen. Ein unterdrücktes Schluchzen, dann ein Türknallen. Aus der Wohnung.

Vielleicht sollte ich einfach klingeln, das Paket abstellen und verschwinden.

Er klingelte. Drehte sich um, um zu gehen.

„Warte!“

Die Tür flog auf. Marc stand da, die Augen feucht.

„Ich weiß nicht mehr, wie du heißt, aber ich brauche deine Hilfe.“

Sławek konnte Hilferufen nie widerstehen. Es war seine Schwäche, sein Antrieb. Anderen zu helfen, gebraucht zu werden – das war das Einzige, was ihm wirklich Freude bereitete. Nicht Menschen an sich. Menschen verwirrten ihn. Ihre Emotionen waren chaotisch, unlogisch, anstrengend. Aber gebraucht werden? Das verstand er.

Er folgte Marc in die Wohnung.

Marc führte ihn in die Küche. Die Pfannkuchen brutzelten leise in der Pfanne.

„Kannst du… kannst du das hier im Auge behalten? Nur für ein paar Minuten. Ich muss nach Anne sehen.“

„Klar“, sagte Sławek.

Marc verschwand im Bad. Sławek hörte gedämpfte Stimmen, dann Stille.

Er stand in der Küche, umgeben vom Duft seiner Kindheit, und wusste nicht, was er tun sollte. Die Pfannkuchen mussten gewendet werden. Er tat es, unbeholfen, aber erfolgreich.

Minuten vergingen. Viele Minuten. Ein halber Äon, gemessen an der Zeit eines kulinarisch minderbemittelten Kochs.

Marc kam heraus. Seine Augen waren rot, die Nase verschnupft. Er hatte geweint.

Sławek wollte fragen, aber er traute sich nicht. Er war noch nie gut darin gewesen, in die Privatsphäre anderer einzudringen. Das war nie sein Ding.

Das Essen war fertig. Der Tisch war gedeckt. Für drei Personen.

„Warum… warum sind es drei Gedecke?“, fragte Sławek.

Marc lächelte traurig. „Polnische Tradition. Man deckt immer ein Gedeck mehr, als Personen anwesend sind. Falls ein Gast kommt. Oder als Symbol für die, die nicht mehr unter uns sind.“

Er machte eine Pause. „Meine Großeltern haben das immer gemacht. Sie kamen aus Schlesien.“

Sławek nickte langsam. Er kannte die Tradition. Seine Eltern hatten es genauso gemacht.

„Möchtest du mit uns essen?“, fragte Marc. „Anne braucht noch etwas Ruhe. Aber du… du bist willkommen.“

Sławek zögerte. Sein Rechner wartete. Der CUDA-Treiber. Die Reparatur.

Aber er blieb.

Er wusste selbst nicht, warum.

Marc servierte die Pfannkuchen. Er erzählte, langsam, zögernd.

„Die Babyflaschen… wir haben sie vor Wochen bestellt. Anne und ich, wir haben ein Kind erwartet. Es sollte kurz nach Weihnachten kommen.“

Er hielt inne.

„Aber es kam tot zur Welt.“

Sławek erstarrte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Mann, das tut mir aber leid für euch“, brachte er heraus.

Es waren die einzigen Worte, die ihm einfielen. Sein Wortschatz für Empathie war begrenzt.

Marc nickte. „Anne… sie kommt nicht darüber hinweg. Sie ist sehr reizbar. Manchmal sitzt sie stundenlang im Bad und weint. Diese Babyflaschen waren ein Trigger.“

Sławek nickte stumm.

Anne verließ das Bad, ging ins Schlafzimmer. Marc folgte ihr. Minuten vergingen. Dann kam Marc zurück. Kurz darauf kam Anne heraus.

Sie war geschminkt, trug ein schönes Kleid. Ein Versuch, die letzte Stunde wettzumachen. Ein Versuch, Marc zu zeigen, dass sie es versuchte.

Marc stellte sie vor. Anne setzte sich an den Tisch. Sie wollte nichts essen.

Aber dann begannen sie zu reden.

„Verbringst du Weihnachten allein?“, fragte Anne leise.

„Ja“, sagte Sławek. „Ich… ich feiere nicht mehr. Nicht seit Jahren.“

„Warum nicht?“

Er zögerte. „Ich komme aus einer polnischen Familie. Weihnachten war immer groß. Die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium, das Teilen der Oblaten, die Wünsche. Aber… irgendwann wurde es mir zu viel. Die Emotionen, die Erwartungen. Ich wollte einfach nur Ruhe.“

Marc und Anne sahen einander an.

„Wir sind auch nicht besonders gläubig“, sagte Marc. „Aber… magst du uns erzählen, wie deine Familie es gemacht hat?“

Sławek erzählte. Von der Weihnachtsgeschichte, von den Oblaten, von seiner Oma und den Pfannkuchen. Marc öffnete sein Smartphone, suchte das Lukas-Evangelium, las es vor.

Die Geschichte von Maria und Josef. Von der Geburt in Bethlehem. Von der Herbergssuche.

Anne weinte. Aber diesmal anders. Ihre Tränen waren sanfter, stiller. Sie hörten schnell auf. Ihr Gesicht wirkte befreit.

Sie nahm die restlichen zwei Pfannkuchen auf ihren Teller.

Sławek spürte einen Widerspruch in sich. Er wollte bleiben. Die Gesellschaft der beiden gefiel ihm. Aber gleichzeitig drängte der Rechner, der zu Hause wartete.

Stunden waren vergangen. Er hatte es nicht gemerkt.

„Ich muss gehen“, sagte er. „Danke. Für… für alles.“

„Frohe Weihnachten“, sagte Anne und lächelte.

„Frohe Weihnachten“, wiederholte Sławek.

Auf dem Heimweg dachte er nach. Warum war Weihnachten nicht mehr sein Fest? Als Kind hatte er es geliebt. Das Essen der Oma, das Zusammensein, die Geschenke, die Stimmung.

Zu Hause ließ er den Rechner liegen. Stattdessen nahm er sein Telefon und rief seine Eltern an.

„Mama? Ich bin’s. Ich wollte nur… frohe Weihnachten wünschen.“

Er hatte es seit Jahren nicht mehr getan.

Ein Jahr später fand Sławek einen Brief in seinem Briefkasten. Das war ungewöhnlich. Alles kam digital.

Absender: Marc und Anne Kowalski.

Er riss den Umschlag auf. Eine Klappkarte. „Frohe Weihnachten.“

Innen stand: Jes 9,5. Darunter ihre Unterschriften. Und ein handgezeichneter QR-Code.

Sławek tippte das Kürzel in sein Smartphone. Der Text erschien:

„Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.“

Er lächelte. Dann scannte er den QR-Code. Eine Telefonnummer.

Er rief an.

„Higgins!“, rief Marc voller Freude. „Ich freue mich so, von dir zu hören!“

Marc erzählte. Wie es Anne allmählich besser gegangen war. Wie sie im Mai erfahren hatten, dass sie erneut schwanger war. Wie alles dieses Mal glatt gelaufen war.

„Das Baby ist gesund. Es ist ein Junge. Willst du uns an Heiligabend besuchen?“

Sławek lächelte. „Danke, aber ich feiere dieses Jahr mit meiner Familie.“

„Das freut mich“, sagte Marc.

In diesem Jahr war vieles anders.

Der Softwarebug im Logistikzentrum, der Rechnungen und Paketetiketten vertauscht hatte, war gefunden und beseitigt worden.

Sławek hatte das Familienfest für sich wiederentdeckt.

Und in der Wohnung von Marc und Anne war nun öfter Weinen und Schreien zu hören – die Zeichen des Lebenswillens eines neuen Menschen.


Ende

Gemini

Hier ist die Geschichte, geschrieben im gewünschten Stil und mit den vorgegebenen Handlungselementen.

Es war vierzehn Uhr zweiunddreißig an einem vierundzwanzigsten Dezember, als Sławek – der sich in der digitalen Welt und auch in der analogen, wann immer es sich nicht vermeiden ließ, „Higgins“ nannte – zu der Schlussfolgerung kam, dass die Welt ein Ort fundamentaler Fehlerhaftigkeit war. Auf seinem Monitor starrte ihn der eingefrorene Pixelbrei eines abgestürzten Grafiktreibers an.

„Speicherzugriffsfehler“, murmelte er. Es war eine Feststellung, keine Klage. Emotionen waren ineffizient, genau wie der CUDA-Treiber seiner NVIDIA-Karte, der sich soeben ohne Vorwarnung verabschiedet hatte.

Higgins, eigentlich Sławomir, war ein Produkt pragmatischer Migration. Seine Eltern, Akademiker aus Polen, waren um die Jahrtausendwende nach Deutschland gekommen, getrieben von der rationalen Analyse ökonomischer Opportunitäten. Sie hatten ihm einen Namen gegeben, der Heimat bedeutete, und er hatte sich einen Namen gegeben, der Kompatibilität bedeutete. „Higgins“ war international, phonetisch eindeutig und frei von den Zischlauten, die deutsche Zungen verknoteten. Er hatte sich von seinen Eltern und ihrer sentimentalen Anhänglichkeit an Traditionen getrennt, um in dieser Stadt zu leben – einer Stadt, die nicht gewachsen, sondern entworfen war.

Das Klingeln an der Wohnungstür unterbrach seinen Versuch, den Kernel-Log zu analysieren.

Higgins saß regungslos. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen willkommenen Besuch handelte, ging gegen Null. Er hatte nichts bestellt. Es war Heiligabend. Die soziale Konvention diktierte, dass man jetzt bei Familien war oder Vorbereitungen traf. Er wollte den Fehler beheben. Doch die Neugier, jene unlogische Variable im menschlichen Algorithmus, siegte. Er klappte den Laptop zu, dessen Lüfter noch immer leise heulte, und ging zur Tür.

Der Postbote war bereits im Begriff zu gehen, drückte ihm jedoch wortlos einen grauen Karton in die Hand und verschwand im Treppenhaus. Higgins betrachtete das Paket. Ein unbekanntes Logistikzentrum. Seine Adresse war korrekt: Sektor Nord, Potenzstraße 16. Er nahm ein Cuttermesser und schnitt das Klebeband mit chirurgischer Präzision auf.

Der Inhalt entbehrte jeder Logik. Sechs Babyflaschen, steril verpackt, Kunststoff, BPA-frei.

Higgins starrte auf die Flaschen wie auf einen fehlerhaften Code. Er hatte keine Verwendung für Säuglingsnahrungshardware. Er zog die Rechnung unter dem Füllmaterial hervor. Empfänger: Anne. Sektor Süd, Straße 49. Ein Routing-Fehler. Ein klassisches Versagen der Datenbanklogik.

Er lief zum Fenster, doch der gelbe Transporter war bereits ein kleiner Punkt am Ende der Straße. Eine Rücksendung über die Post würde Tage dauern. Tage, in denen der rechtmäßige Empfänger auf diese Lieferung wartete. Higgins berechnete kurz die Distanz. Die Postfiliale war in Sektor West. Die Adresse auf der Rechnung in Sektor Süd. Die Entfernung war äquivalent.

„Ineffizient“, dachte er, zog aber seine Funktionsjacke an. Sie war für arktische Expeditionen zertifiziert, was in dieser gemäßigten Klimazone absurd war, aber Higgins schätzte die Redundanz an Taschen und die absolute Winddichte.

Er trat hinaus in die Stadt. Sie war das Werk eines Informatikers, der Ordnung über alles liebte. Keine Namen, keine politische Historie, nur reine Mathematik. Das Zentrum war der Ursprung. Darum legten sich die Ringe der Primzahlen: Zwei, Drei, Fünf, Sieben. Von diesen Ringen gingen die Potenzstraßen ab. Wer das kleine Einmaleins beherrschte, benötigte kein GPS. Higgins musste von der S-49 zur 2.

Er ging die grauen Gehwegplatten entlang. Die Architektur war kubistisch, funktional, eine Hymne an den Beton. Die Bäume in den Vorgärten waren kugelförmig geschnitten, uniform und standen in exakten Abständen zueinander, als wären sie geklont. Es gab keine wildwuchernde Natur, nur berechnetes Grün.

„Schnell abgeben und zurück an den Rechner“, dachte Higgins. Die Kälte kroch ihm trotz der Jacke ins Gesicht. Er erreichte das Zielgebäude. Ein Mehrparteienhaus, identisch mit seinem eigenen, nur gespiegelt. Er drückte die Klingel, die den Namen auf der Rechnung trug.

Das Haustelefon knackte.
„Ja?“ Eine männliche Stimme.
„Higgins hier. Ich habe ein Paket, das Ihnen gehört. Falschzustellung.“
„Oh. Äh, ja. Komm hoch. Zweiter Stock.“

Der Summer ertönte. Higgins stieg die Treppen hinauf. Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann stand dort. Das musste Marc sein. Doch was Higgins viel stärker traf als der Anblick des Mannes, war der Geruch, der aus der Wohnung strömte.

Es war eine olfaktorische Anomalie in dieser sterilen Stadt. Sauerkraut. Getrocknete Pilze. Zwiebeln. Pflaumen. Piment.
Es roch wie früher. Es roch nach seiner Großmutter.

„Das ist für… Anne?“ fragte Higgins und reichte das Paket. Im Flur sah er eine Frau, Anne, die blass und abwesend wirkte.
„Ja, danke“, sagte Marc leise.
Higgins konnte sich nicht zurückhalten. „Was… was ist das für ein Gericht?“
Marc blinzelte überrascht. „Das? Pfannkuchen mit Bigos-Füllung. Sauerkraut, Pilze… altes Rezept.“
„Verstehe“, sagte Higgins. „Frohes Fest.“
Er drehte sich um. Die Tür fiel ins Schloss.

Unten im Hausflur blieb Higgins stehen. Auf dem Boden, direkt neben den Briefkästen, lag ein weiteres Paket. Es war an Marc und Anne adressiert.
Higgins runzelte die Stirn. War der Bote zurückgekommen? Hatte er es übersehen? Unmöglich. Seine Wahrnehmung arbeitete präzise.
Er hob es auf. Er konnte es nicht einfach liegen lassen. Das Pflichtbewusstsein, das tief in seiner polnischen Erziehung verwurzelt war und das er nie ganz hatte löschen können, meldete sich. Seufzend trat er den Weg zurück in den zweiten Stock an.

Er stand vor der Tür und hörte Geräusche. Ein Weinen. Laut, verzweifelt. Das Klappern von Türen.
Er wollte das Paket ablegen und fliehen. Soziale Interaktionen unter emotionalem Stress waren Fehlerquellen, die er mied. Er hob die Hand, um zu klingeln, da wurde die Tür aufgerissen.

Marc stand da, die Augen weit aufgerissen. „Ich weiß nicht mehr, wie du heißt, aber ich brauche deine Hilfe.“

Higgins erstarrte. Ein direkter Hilferuf war ein Befehl mit höchster Priorität. Er konnte nicht anders. Er nickte und folgte Marc in die Wohnung.
„Die Küche“, sagte Marc hastig und zeigte auf den Herd. „Pass auf das Essen auf. Nichts anbrennen lassen. Ich muss… ich muss zu ihr.“

Marc verschwand im Badezimmer. Higgins stand allein in der fremden Küche, umgeben vom Duft seiner Kindheit, und überwachte Pfannkuchen. Er fühlte sich wie ein Fremdkörper in einem intimen Systemabsturz.

Es verging eine Ewigkeit. Oder zwanzig Minuten. Für Higgins, der Zeit in Taktzyklen maß, war es ein halber Äon. Schließlich kam Marc heraus. Seine Augen waren rot, die Nase lief. Er sah erschöpft aus.
Higgins schwieg. Er fragte nicht. Er wusste, dass Menschen ihre Firewalls manchmal herunterfahren mussten, aber er wollte nicht in die Logs schauen.

„Das Essen ist fertig“, sagte Marc tonlos. Er deckte den Tisch.
Ein Teller. Zwei Teller. Drei Teller.
Higgins rechnete nach. Zwei Anwesende Bewohner plus ein Gast?
„Warum drei?“ fragte er, in der Hoffnung, eine logische Erklärung für die Variable zu erhalten.

Marc lächelte schwach. „Meine Großeltern kamen aus Schlesien. Und Polen. Wir halten die Tradition. Ein Gedeck mehr als Personen. Für einen unerwarteten Gast. Oder für die Verstorbenen. Oder für Gott. Je nachdem, wie man es sieht.“ Er sah Higgins an. „Setz dich. Bitte. Anne braucht noch Zeit.“

Higgins wollte widersprechen. Sein Rechner wartete. Der Bug wartete. Doch er setzte sich. Vielleicht war es der Geruch.
Marc servierte die gefüllten Pfannkuchen. Dann erzählte er.
„Die Flaschen“, sagte er und stocherte im Essen. „Wir haben sie vor Wochen bestellt. Wir… wir erwarteten ein Kind. Nach Weihnachten.“ Er schluckte. „Es kam tot zur Welt. Vor zwei Tagen.“

Higgins spürte eine Kälte, die nichts mit der Außentemperatur zu tun hatte. Sein Wortschatz, optimiert für technische Spezifikationen, bot keine passenden Parameter für diesen Ausnahmezustand.
„Das Paket… war der Trigger“, fuhr Marc fort. „Anne ist zusammengebrochen. Sie sitzt im Bad. Sie weint.“
„Das tut mir leid“, sagte Higgins. Es klang mechanisch, aber es war das einzige Output, das er generieren konnte.

Dann öffnete sich die Tür. Anne kam herein. Sie hatte sich geschminkt, trug ein festliches Kleid, obwohl ihre Augen noch glänzten. Es war eine Maske, eine GUI, die Stärke simulieren sollte. Marc sprang auf, führte sie zum Tisch.
„Das ist Higgins“, sagte Marc. „Er hat das Paket gebracht. Und er ist geblieben.“

Anne nickte ihm zu und setzte sich. Sie aß nichts. Die Stille im Raum war schwer wie Blei.
„Ich… kenne diese Tradition“, sagte Higgins plötzlich. Seine eigene Stimme überraschte ihn. „Meine Eltern… sie machen das auch. Den leeren Teller.“
Anne sah auf. „Wirklich?“
„Ja. Und man teilt die Oblate. Wünscht sich was.“
„Wir haben keine Oblaten“, flüsterte Anne.
„Aber wir haben die Geschichte“, sagte Marc. „Sollen wir?“

Sie baten ihn zu bleiben. Higgins, der Einsiedler, der die rationale Kühle der Primzahl-Stadt der Wärme menschlicher Unzulänglichkeit vorzog, blieb. Auf ihren Wunsch hin begann er zu erzählen, wie es bei ihm zu Hause war. Rational, beschreibend, aber es reichte. Sie suchten das Lukas-Evangelium auf einem Tablet. Higgins las vor.
Als er an die Stelle mit der Geburt kam, stockte er. Er fürchtete einen erneuten Absturz bei Anne. Doch sie hörte zu. Sie weinte, aber leise. Es waren keine Tränen der Hysterie mehr, sondern die der Resignation und vielleicht eines kleinen Friedens.
Sie aß zwei Pfannkuchen.

Später am Abend, als Higgins ging, fühlte er einen inneren Konflikt. Er wollte bleiben, in dieser seltsamen, traurigen Wärme. Aber der Drang nach Ordnung, nach seinem Rechner, war stark.
„Frohe Weihnachten“, sagte er an der Tür.
„Danke“, sagte Marc.

Auf dem Heimweg durch die geometrischen Straßen dachte Higgins nicht an den Grafikkartentreiber. Er dachte an den leeren Teller. An die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen in einer Stadt aus Zahlen genau ihn brauchten, um nicht zu zerbrechen.
In seiner Wohnung ignorierte er den Laptop. Er nahm sein Smartphone. Wählte eine Nummer, die er seit Jahren nicht gewählt hatte.
„Mama?“, sagte er, als abgenommen wurde. „Ja, ich bin’s. Sławek. Frohe Weihnachten.“

Ziemlich genau ein Jahr später, die Stadt war immer noch grau und mathematisch korrekt, fand Higgins einen Brief in seinem Briefkasten. Analoge Post war eine Rarität.
Absender: Marc und Anne.

Er öffnete den Umschlag. Eine Karte. Frohe Weihnachten.
Innen stand nur ein Kürzel: Jes 9,5.
Darunter eine krakelige, handgezeichnete Grafik. Ein QR-Code, mit schwarzem Fineliner auf das Papier gemalt. Ein analoger Link.

Higgins lächelte über den Aufwand. Er scannte die Zeichnung mit seinem Handy. Der Code wurde erkannt. Es war ein Wähl-Befehl für eine Telefonnummer. Marcs Nummer.
Er drückte auf Anruf.

„Higgins!“, rief Marc, als hätte er neben dem Telefon gewartet. Im Hintergrund hörte Higgins etwas. Ein Schreien. Laut, fordernd, vital.
„Hörst du das?“, lachte Marc. „Wir sind Eltern. Ende Mai hat es geklappt. Alles gut gegangen. Ein Junge.“
Higgins griff nach dem Bibeltext, den er im Browser geöffnet hatte. Jesaja 9,5. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt.

„Kommst du heute Abend?“ fragte Marc. „Der Teller steht bereit.“
Higgins blickte auf seine gepackte Tasche im Flur.
„Ich kann nicht“, sagte Sławek sanft. „Ich fahre zu meinen Eltern. Wir feiern zusammen.“

In diesem Jahr funktionierte das Logistiksystem der Stadt fehlerfrei. Der Bug im Verteilzentrum war behoben worden. Aber Sławek wusste, dass manche Fehler notwendig waren, um das System Mensch am Laufen zu halten. Er schloss die Tür hinter sich ab und trat hinaus in die Kälte, bereit für die Wärme.


Rohfassung

Schreibe eine Weihnachtsgeschichte im Stile von George Orwell, aber nicht ganz so pessimistisch. Da ist ein junger Mann, um die 20 Jahre alt, der mit dem richtigen Namen Sławek (eigentlich: Sławomir) heißt. Er bevorzugt jedoch das Pseudonym „Higgins“, weil er es internationaler ist und in seinen Kreisen der Informatiker besser gesprochen und besser zu merken ist, als ein polnischer Vorname, denn seine Eltern stammen von aus Polen und wollten wieder dorthin zurückkehren. Sie wanderten um das Jahr 2000 nach Deutschland ein, weil sie hier bessere Möglichkeiten hatten, um mit ihrem technischem und betriebswissenschaftlichem Hochschulabschluss Geld zu verdienen und mehr zu erreichen als vor Ort. In der Geschichte werden später noch Marc und Anne vorkommen, die in derselben Stadt wohnen, aber einige Straßen entfernt sind und ein junges Ehepaar sind, zusammen in einer Wohnung in einem Mehrparteienhaus. An der Eingangstür des Hauses gibt’s ein Haustelefon, über das man sich erst ankündigen muss, um da reinzukommen. Die Geschichte sollte mit einem Gedanken von Sławek anfangen. Baue im Text mehr Dialoge und Überlegungen ein, die der Leser dann nachvollziehen kann.

Diese Weihnachtsgeschichte beginnt damit, dass der Junge über den Absturz des CUDA-Treibers von seiner NVIDIA-Grafikkarte schimpft. Gleichzeitig klingelt es an der Tür. Es ist ein Postbote, der ihm ein Paket übergibt. Sławek ist hin und her gerissen, ob er zuerst das Paket aufmachen soll oder sich an den Rechner setzen soll und das zu reparieren, was der Absturz verursacht hat. Da es früher Nachmittag von Heiligabend ist, denkt er, dass vielleicht jemand seiner Freunde oder Familie ein Geschenk ihm zuschicken wollte. Kurz blickt er auf den Monitor, um schnell noch Fehler zu analysieren. Da er aber kein Rat weiß und es würde zu lange dauern, eine tiefe Analyse zu machen, klappt er sein Laptop zu. Er hat kein Paket erwartet, weil er nichts bestellt hat. Er schneidet den grauen Karton auf. Dabei fällt ihm auf, dass der Absender ein unbekanntes Logistikzentrum ist, doch seine Adresse scheint zu stimmen. Der Inhalt ist völlig überraschend. Es ist eine Packung mit 6 Babyflaschen. Dieser hat er sicherlich nicht bestellt und es ist auch kein bekannte Absender. Es muss sich also um einen Fehler handeln. Unter der Verpackung der Flaschen liegt eine Rechnung mit einer anschrift einer völlig unbekannten Person bei. Er will dem Paketboten noch schnell hinterherlaufen, um das Paket zu reklamieren. Hofft, dass der richtige Empfänger dieses Paket noch rechtzeitig bekommt. Jedoch vergeblich. Der Paketbote ist schon weggefahren. Ein Gang zur Post würde die Zustellung nur verzögern. Da die Entfernung zur post in etwa die gleiche ist wie zu der Frau, die das Paket bestellt hat, entscheidet er sich für die persönliche Übergabe.

Sie leben in einer Stadt, die von einem Informatik entwerfen wurde. Das Straßennetz ist in einem ganz bestimmten System angelegt. Die Straßen haben keine Namen, da mit jedem Namen immer eine politische Wertung verbunden wäre. Deshalb haben die Straßen nur Nummern. Die Primzahlen sind konzentrisch um das Zentrum angelegt. Zwei, drei, fünf, sieben, elf und so weiter sind die Kreise um die Mitte. Die Potenzen dieser Zahlen sind die Straßen, die in Richtung Nord, Süd, Ost und West führen. Diese Straßen fangen mit einem S, einem N, einem O oder einem W an. Damit ist eine Navigation in dieser Stadt völlig überflüssig, denn wer multiplizieren und dividieren kann, findet sehr schnell heraus von wo nach wo er über welche Straßen gehen muss. Es ist keine große Stadt, also muss man auch nicht viel rechnen und weiß sehr schnell, dass man von der S 49 zur 7 muss, dann ein Stück 7 entlang, bis man die S 4 antrifft, die ja von der 2 abgeht. So gelangt man schnell von der S 49 zur 2. Als begabter Mathematiker und Informatiker hat er damit natürlich gar keine Probleme. Er zieht schnell seine Funktionsjacke über, die man sonst eigentlich nur für Polarexpeditionen verwenden würde, um sich auf den Weg zu machen. Die Straßenzüge, die hier an diesem Nachmittag entlang geht, sind alle funktionalistisch, etwas kubistisch angehaucht, aber mit wenig Farbe und Verzierung versehen. Die Funktionalität ist in dieser Stadt etwas der Gebot. Schnell erreicht der sein Ziel. Ein Haus wie es sie dort zuhauf gibt in dieser Stadt. Ein Mehrparteienhaus mit einem pseudo-Vorgarten, der für eine minimale Berünung und ein wenig Schatten für die mit grauem Granit gepflasterten Wege durch niedrige und wie geklont gleichmässige Kugelbäume sorgt. „Schnell abgeben und zurück an den Rechner!“ denkt Sławek als er die Klingel passend zum Namen auf der Rechnugn aus dem Paket drückt.

In einem kurzen Dialog am Haustelefon unterhält sich Sławek nicht mit der Anne aus der Rechnungsadresse, sondern mit Marc – ihrem Ehemann – über das Paket und die seltsame Zustellung. Marc drückt die Türöffnertaste und lädt ihn in den zweiten Stock ein. Im zweiten Stock angekommen. Drückt Marc die Klingel an der Tür. Es öffnet Marc. Im Hintergrund sieht er eine Frau, die nicht in bester Verfassung zu sein scheint. Der Duft, der aus der Wohnung rauskommt, ist ein Duft, den Słæwek schon lange vermisst hat. Es Fühlt sich an wie seine Kindheit und erinnert an seine Oma, die scheinbar das gleiche gekocht haben muss. Er möchte nicht unfreundlich sein, aber er fragt Marc recht direkt, was das für eine Gericht sein soll. Es ist ein Pfannkuchen gefühlt mit einer Füllung aus Sauerkraut, Pilzen, Zwiebeln , Pflaumen und vielen Gewürzen, die man sonst nur selten verwendet. Der bedankt sich bei Marc für die Auskunft, wünscht noch halbherzig „ein frohes Weihnachtsfest“ und geht die Treppe herunter. Die Tür wird hinter ihm zugemacht.

Im Eingangsbereich des Hauses angekommen sieht ein Paket, das scheinbar vorher noch nicht da war. Es ist an Marc und Anne adressiert. Er fragt sich, ob der Postbote genau in der Zeit dort war, als er mit Marc an der Tür gesprochen hat, oder wie dieses Paket dort hingekommen sein soll. Denn er müsste es ja gesehen haben, als er auf dem Weg nach oben den Flur entlang gelaufen ist. Mit schlechtem Gewissen, dass Marc und Anne das Paket nicht bekommen, weil sie ja nicht mitbekommen haben, dass es unten abgelegt worden ist, nimmt er das Paket in die Hände und tritt den Weg nach oben an. Er klingelt erneut an der Tür und erwartet eine kurze Übergabe. Bereits vor der Tür wird er schon weinerliches Schreieb und Türklappern aus der Wohnung dringen. Er denkt sich: „hoffentlich komme ich nicht ungelegen. Vielleicht klinge ich lieber, lege es ab und verschwinde.“

Kaum hat er geklingelt und sich umgedreht, um wieder wegzugehen, ging die Tür auf. Marc rief ihm hinterher. „Ich weiß nicht mehr, wie du heißt, aber ich brauche deine Hilfe.“ Einem Hilferuf konnte Sławek noch nie widerstehen. Er fühlte sich sofort gebraucht, und das war das, was ihm am meisten im Leben Spaß gemacht hat – anderen zu helfen. Er war ein typischer Nerd, der nur Computer kennt und mit Menschen schlecht zurechtkommt. Er versteht die Menschen nicht und er möchte mit ihnen möglichst wenig zu tun haben, weil das emotionale Leben der anderen einfach viel zu verwirrend für ihn ist. Sogar seine eigene Familie war für ihn eine Last. Deshalb trennte er sich von seinen Eltern und zog in diese moderne Stadt, wo er sich weniger Emotionen und mehr Vernunft gehofft hatte. Er folgte Marc in die Wohnung, wo dieser ihm mit einer kurzen Einweisung das Essen in der Küche anvertraut hat. Danach verschwand Marc im Bad und kam minutenlang nicht heraus. Einen halben Äon später – gezählt die der Zeit eines kulinarisch minderbemittelten Kochs – kam Marc traurig heraus. Er scheint geweint zu haben. Die rot angelaufenen Augen und die verschnupfte Nase haben es verraten. Sławek war sehr neugierig, darauf zu erfahren, was passiert ist, aber traute sich nicht, in die Privatsphäre anderer Menschen so tief einzudrängen. Es war ja schließlich nie sein Ding. Das Essen war fertig und der Tisch war für drei Personen gedeckt. Das war für Sławek zu viel. Er konnte rechnen und diese zwei haben niemals drei Gedecker gebraucht. Also fragte er Marc, was das bedeuten soll. Dadurch erhoffte er sich, ein wenig Informationen zur Situation zu bekommen.

Marc gab sich sehr auskunftsfreudig und fing damit an zu erzählen, dass seine Großeltern das Essen in der Küche immer an Weihnachten gekocht haben. Da beide aus Schlesien und Polen stammten, kannten wohl deshalb beide auch die polnische Tradition. Man stelle immer ein Gedeck mehr auf dem Tisch, als Personen im Haus sind, denn es könnte immer sein, dass ein Gast vorbeikommt. Und dieser soll auch zu Essen bekommen. Gleichzeitig stand der Teller als Symbol für Menschen, die nicht mehr unter uns sind oder für Gott, der kommen soll. Wie man es auch deuten will.

Marc lud Sławek ein, am Tisch Platz zu nehmen und mit ihm zu essen. Denn seine Frau Anne bräuchte jetzt Ruhe von dem, was sie gerade erlebt hat. Eine halbe Sekunde lang wollte Sławek widersprechen und wieder nach Hause gehen, um seinen Rechner zu reparieren. Doch er blieb. Er wusste selber nicht, Warum. Vielleicht war es das Essen, auf das er sich schon nach Jahren so gefreut hat. Das Essen von seiner Oma. Das Essen und die polnisch-schlesische Abstammung der beiden waren Schnittstellen, die beiden miteinander verbunden haben. Marc vergewisserte sich noch einmal im Bad, dass Anne tatsächlich nicht rausgehen will und die Ruhe für sich braucht. Danach kam er an den Tisch und servierte die Pfannkuchen auf die Teller der beiden. Er erzählte, dass die Baby-Flaschen, die in dem falsch zugestellten Paket enthalten waren, schon vor einigen Wochen bestellt worden sind. Die beiden erwarteten ein Kind, das kurz nach Weihnachten zur Welt kommen sollte, jedoch kam es auf unerklärliche Weise tot zur Welt. Es war eine schwere Zeit für die beiden und nichts schien die beiden trösten zu können. Doch die Anne war damit völlig überfordert. Egal was Marc versucht hat. Anne war sehr reizbar und verlor sehr schnell ihr psychisches Gleichgewicht. Sie konnte eine Stunde lang im Bad sitzen und weinen. Danach ging es ihr besser. Diese Baby-Flaschen waren wieder ein schlimmer Trigger. Sławek brachte natürlich seinen Bedauern zum Ausdruck, wusste aber auch nie wirklich wie das geht. Mit einem „Mann, das tut mir aber leid für euch“ war er eigentlich schon am Ende seiner Skala, was Empathie und Wortschatz anbetrifft.

Anna verließ das Bad und ging ins Schlafzimmer. Marc ging zu ihr. Wenigen Minuten kam er heraus. Noch einige Minuten später kam die Anne heraus. Schön gekleidet und geschminkt, als würde sie zu einem Fest gehen wollen. Es war ihr Versuch, die letzte Stunde wett zu machen und die Bemühungen Marcs zu würdigen, den sie über alles liebte. Marc stellte ihr Sławek vor und sie nahm am Tisch Platz. Sie wollte nichts essen. Am Anfang etwas sprachlos, kam es über die Geschichte mit dem Paket zu einem netten Gespräch. Marc und Anne konnten sich nicht vorstellen, dass ein Mensch alleine Weihnachten verbringt. Sławek kannte es von seinen Eltern und kannte genau die Abläufe einer polnischen Weihnacht. Er erzählte von seiner Familie und davon, wie er in die Stadt gezogen ist. Und dass ihm die Religionen und das ganze Gefühlsleben einfach manchmal zu viel sind. Er wollte einfach nur Ruhe haben. Er wusste auch, dass man die Weihnachtsgeschichte an jedem Abend gelesen hat. Und dass es damit begonnen hat. Bevor das Teilen der oblaten mit den Wünschen unter allen Anwesenden für nächstes Jahr und das Weihnachtsfest folgten. Er wagte es nicht aufzusprechen, denn die Weihnachtsgeschichte enthielt die Geburt eines Kindes, was die Anne wieder triggern konnte. Doch auf mehrfache Nachfrage der beiden hat er damit angefangen davon zu erzählen, wie seine Familie es feierte. Die beiden waren auch nicht besonders gläubig. Deshalb haben sie schnell im Internet die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas Evangelium gefunden und sie gelesen, um alle Details nachvollziehen zu können. Die Geschichte von Maria und Josef berührte Anne tief. Sie weinte, jedoch am Tisch und auf eine andere Weise. Es waren Tränen der Sympathie und sie hörten schnell auf. Sie fing wieder an zu lächeln und ihr Gesicht wirkte irgendwie befreit. Sie nahm auf den Teller die restlichen zwei Pfannkuchen, die sie immer gegessen hatte, seit die beiden ein Paar wurden.

Sławek hatte einen Widerspruch in sich entdeckt. Am liebsten würde er dort wohnen bleiben. So gut gefiel ihm die Gesellsschaft der beiden. Gleichzeitig wollte er auch seinen Rechner möglichst schnell reparieren. Er hat ja nicht gemerkt, wie viele Stunden vergangen sind. Marc und Anne hätten ihn am liebsten noch ein paar Stunden bei sich behalten. Als willkommenen Gast am Heiligabend. Doch Sławek verspürte den unwiderstehlichen Drang, seinen Rechner wieder „gesund zu machen“. Er bedankte sich bei Marc und Anne für Diese schöne Zeit und verließ sie nach einem kurzen und schmerzlosen „Frohe Weihnachten“.

Den ganzen Nachhauseweg überlegte Sławek, warum eigentlich Weihnachten nicht sein Fest ist. Als Kind hat es geliebt, das Essen der Oma, das Spielen mit den Eltern, die Geschenke, die ganze Stimmung und das Zusammensein. Das war eine seiner stärksten Erinnerungen an die Zeit mit seiner Familie. Zu Hause angekommen, war ihm der Rechner dann doch nicht mehr so wichtig und ließ ihn einfach liegen. Stattdessen nahm er das Telefon in die Hand, um seine Eltern anzurufen und auch ihnen frohe Weihnachten zu wünschen. Er tat es seit Jahren nicht mehr, weil ihm das Fest egal war. Doch dieses Mal war etwas anderes.

In etwa ein Jahr später fand Sławek in seinem Briefkasten einen Brief. Das war ungewöhnlich, denn er bekam die Post nur noch elektronisch. Es waren Marc und Anna als Absender. Er erinnert sich gut an die beiden und den Abend. Gespannt riss er den Briefumschlag auf und fand eine Klappkarte mit „Frohe Weihnachten“ drauf. Auf der Innenseite stand das Kürzel „Jes 9,5“, darunter die Unterschrift von den beiden und ein liebevoll von Hand gezeichnetes QR-Code. Er nahm sein Smartphone in die Hand und tippte schnell das Kürzel ein. Der Text zum Display zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Da stand: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.“ Er wusste, was es bedeuten sollte. Er scannte den QR ab. Es war eine Telefonnummer. Er rief sie an. Es war Marc’s Telefonnummer. Voller Freude erzählte Marc ihm, wie die Situation nach dem Weihnachtsabend sich allmählich besserte. Und wie sie Ende Mai erfahren haben, dass sie doch Eltern werden. Dieses Mal ging alles glatt. Die Freude war übergroß. Marc ludt Sławek zum Heiligabend bei ihnen ein. Sławek dankte ab und verwies auf die Familie, mit der er wieder Weihnachten feiern wollte.

In diesem Jahr war tatsächlich sehr viel anders. Der Softwarebug im Logistikzentrum der Rechnungen und Paketetiketten vertauschte, wurde gefunden und beseitigt. Sławek entdeckte das Familienfest – wie er es nannte – für sich. In der Wohnung von Marc und Anne war öfter ein Weinen und Schreien zu hören – die Zeichen des Lebenswillens eines neuen Menschen.